Fern (Frances McDormand), Anfang 60, ist „on the road“. Nicht in einem Wohnmobil der höheren Preisklasse, und auch nicht, um sich ein paar Sommerwochen lang ein bisschen Freiheit um die Nase wehen zu lassen, bevor es zurück ins Büro geht. Sie ist vielmehr immer unterwegs, fährt von einem Job zum nächsten, frittiert Pommes in einem Diner, schrubbt auf einem Campingplatz Toiletten oder hilft bei der Zuckerrübenernte.
Ihr Zuhause ist ein ausgebauter Ford-Transporter, den sie „vanguard“, Vorhut, genannt hat. Sie übernachtet auf Parkplätzen, vor Supermärkten, neben dem Highway oder inmitten der freien Natur. Manchmal wird Fern nachts durch ein energisches Klopfen gegen die Tür vertrieben, aber meist lässt man sie in Ruhe. Fern ist eine moderne Nomadin. Sie hat sich dieses Leben zumindest anfangs nicht freiwillig ausgesucht.
Überleben in den USA im 21. Jahrhundert
Die Frau mit ihren kurzen, strubbeligen Haaren hat sich die Regisseurin, Drehbuchautorin und Editorin Chloé Zhao für ihren dritten, mehrfach preisgekrönten Spielfilm „Nomadland“ erdacht. Mag diese Fern auch fiktiv sein, führt sie doch in eine sehr reale und eher unbekannte Lebenswirklichkeit hinein, die die US-amerikanische Journalistin Jessica Bruder 2017 in ihrem Buch „Nomaden der Arbeit. Überleben in den USA im 21. Jahrhundert“ beschrieben hat. Es ist die Welt der „van dwellers“, also der Frauen und Männer, viele von ihnen im Rentenalter, die in Wohnmobilen, Kleinbussen oder Trailern leben und oft als Saisonarbeiter durch die USA ziehen. Die meisten von ihnen haben mal ein bürgerliches Leben geführt, bis die Rezession ihre Jobs gekillt oder ihre Ersparnisse verschlungen hat.
Es ist ein Stoff wie gemacht für Chloé Zhao. Bereits in „Songs My Brother Taught Me“ (2015) und „The Rider“ (2017) erzählte sie von Schicksalen, die leicht übersehen werden. Dabei schaut sie nicht aus der Distanz zu, sondern begibt sich mitten hinein und integriert die Menschen, um die es ihr geht, indem sie sie als Schauspielerinnen und Schauspieler engagiert, in ihren Häusern und Wohnungen dreht und sich von ihrem Alltag und ihren Erfahrungen inspirieren lässt.
Erfahrungen mit realen „van dwellers“
In „Nomadland“ sind das solch reale Personen wie Linda May, die wie Fern zur Weihnachtszeit bei Amazon schuftet, oder Bob Wells, Aktivist und Begründer des seit 2010 stattfindenden „Rubber Tramp Rendezvous“ in Quartzsite, Arizona. Sie spielen mehr oder weniger sich selbst. Die Begegnungen mit diesen und anderen „van dwellers“ haben das Drehbuch beeinflusst, das Zhao während der Filmarbeiten ständig überarbeitete. Die Präsenz dieser Leute verleiht „Nomadland“ eine fesselnde Authentizität.
Getragen wird der Film von einer zurückgenommenen agierenden Frances McDormand, die ganz und gar in die Gemeinschaft der Umherreisenden eintaucht und zu einer der ihren wird, wenn sie nachts mit am Lagerfeuer sitzt oder sich vor ihrem Van aufhält und häkelt. Fern ist eine Frau, die alles verloren hat: ihren Mann, ihren Job, ihr Zuhause und ihre Stadt. Jahrelang hat sie in Empire, einem Industriestädtchen in Nevada, gelebt. Die reale Geschichte des Ortes ist Ausgangspunkt der Story. Als im Jahr 2011 die Mine dichtmacht, bedeutet das auch das Aus für den Ort. Sogar die Postleitzahl von Empire wird gelöscht.
Die Menschen müssen ihre firmeneigenen Häuser verlassen, auch Fern. Als sie beim Packen plötzlich die Jacke ihres verstorbenen Mannes in den Händen hält, in die sie fortan immer wieder hineinschlüpft, flackert die Trauer über den Verlust eines ganzen Lebens auf. Es sind die kleinen Gesten, ein Blick, die Art, wie Fern geht oder jemanden umarmt, mit der Frances McDormand das Innenleben, die Verunsicherung, aber auch den Trotz und den Überlebenswillen dieser etwas kantigen Frau vermittelt. Man kann sich keine andere Schauspielerin in dieser Rolle vorstellen.
Einer „unverkennbare amerikanische Identität“
Natürlich lässt sich „Nomadland“ auch als Anklage gegen die kapitalistische US-Gesellschaft lesen. Doch an einem politischen Kommentar scheint Chloé Zhao gar nicht so sehr interessiert. Ihr geht es vor allem um die persönliche Geschichte einer Frau, die vor dem Nichts steht, dies als Herausforderung annimmt, sich allmählich neu entdeckt und schließlich in einem neuen Leben aufgeht. Wunderbar die Szene, wenn sich Fern im Badlands Nationalpark aus einer Besuchergruppe löst und wie ein Kind die bizarre Felsenlandschaft erkundet, mal hierhin, mal dorthin hopst und dabei neugierig und gleichzeitig verloren wirkt.
Die Natur, von Kameramann Joshua James Richards in berauschenden Bildern eingefangen, hat für Fern heilende Kräfte. Die Weite der Wüste von Arizona, die zerklüftete Pazifikküste in Nordkalifornien, der freie Blick auf den Horizont bilden den Gegenpol zur Stadt, in der auch Ferns Schwester Dolly lebt, die mit einem Immobilienmakler verheiratet ist und abends im eingemauerten Garten zum Barbecue einlädt. Ein paar fast schon zu eindeutige Szenen ergeben sich aus diesem Konflikt, aber sie sind Ausnahmen in diesem stillen Frauenporträt, das immer mitfühlend, aber nie sentimental ist und an sozialrealistische Indiefilme wie Kelly Reichardts „Wendy und Lucy“ (2008) erinnert, aber dennoch ganz eigenständig bleibt.
Sie wollte, so Zhao, mit "Nomadland" eine „ganz unverkennbare amerikanische Identität, den wahren Nomaden“ erforschen. Und so wird Fern, die wie eine Pionierin aufbricht und sich neu erfindet, in „Nomadland“ fast zu einer Westernheldin. Allerdings zu einer, die nicht verklärt wird.