Sarita
Bollywood-Film | Italien/Deutschland 2019 | 89 Minuten
Regie: Sergio Basso
Filmdaten
- Originaltitel
- DIMMI CHI SONO - TELL ME WHO I AM
- Produktionsland
- Italien/Deutschland
- Produktionsjahr
- 2019
- Produktionsfirma
- La Sarraz Pictures/Rai Cinema
- Regie
- Sergio Basso
- Buch
- Sergio Basso
- Kamera
- Rabin Acharya
- Musik
- Pivio De Scalzi · Aldo de Scalzi
- Schnitt
- Eric Schefter
- Darsteller
- Sasha Biswas (Sarita)
- Länge
- 89 Minuten
- Kinostart
- 20.06.2020
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 12.
- Genre
- Bollywood-Film | Dokumentarfilm | Musical
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Ein Hindu-Mädchen aus Bhutan, das in einem Flüchtlingslager in Neapel lebt, verliert ihr Gedächtnis und deckt auf der Suche nach ihrer eigenen Identität die Geschichte ihrer Angehörigen und anderer Menschen im Camp auf. Mit Bollywood-Tänzen und -Gesängen aufgelockerte Mischung aus Doku und Spielfilm.
Bhutan ist ein kleines Königreich, im östlichen Himalaya zwischen China und Indien gelegen, gerade einmal 47 000 Quadratkilometer groß und damit „größer als die Niederlande und kleiner als Österreich“, wie es einmal heißt. Knapp 740 000 Menschen leben hier. Zwischen 1989 und 1993 wurden im Zuge eines rigiden „Bhutanisierungs“-Programms weit über 100 000 Einwohner aus dem Land vertrieben. Der Grund: Sie sind Lhotshampa, also Hindus nepalesischer Herkunft, keine Buddhisten. Seitdem leben sie in riesigen Flüchtlingslagern in Nepal, die von der UN-Flüchtlingshilfe unterhalten werden, in der Hoffnung, dass die Menschen irgendwann einmal in ihre Heimat zurückkehren dürfen.
Kein Strom, kein fließendes Wasser
Vor diesem Hintergrund erzählt der italienische Regisseur Sergio Basso in einer Mischung aus dokumentarischen Beobachtungen und Spielszenen die Geschichte der 13-jährigen Sarita, die in Khudunabari, einem riesengroßen Flüchtlingslager, geboren wurde. Doch von Traurigkeit keine Spur: Zusammen mit anderen Jugendlichen tanzt das Mädchen, dargestellt von der natürlich agierenden Sasha Biswas, in perfekter Choreografie einen Bollywood-Tanz und singt von der Hoffnung, einen Jungen zu treffen, der ihr besonders gefällt. Überhaupt sei das Leben im Flüchtlingscamp wie Zelten im Urlaub, man habe alle Freunde um sich. Andere sprechen ironisch von einem Trip ins Mittelalter – kein fließendes Wasser, kein Strom, das sei schon etwas Besonderes.
Doch dann stört eine Nachricht die unbeschwerte Stimmung, die sich wie ein Lauffeuer im Lager verbreitet: Die Menschen sollen umgesiedelt werden, allerdings nicht zurück nach Bhutan, sondern in europäische Länder, etwa nach Norwegen. Sarita betet in einem kleinen Tempel zu Shiva und bittet um Schutz. Plötzlich spricht der Gott zu ihr und verordnet ihr eine Amnesie. Sarita kann sich an nichts mehr erinnern.
Sag mir, wer ich bin
Das ist zunächst ein etwas neckischer Einfall des Regisseurs, doch der funktioniert gut: Sarita muss andere fragen, wer sie ist. Ihre Neugier und die Suche nach ihrer Identität geben von nun an das Erkenntnisinteresse vor. „Tell Me Who I Am“ – „Sag mir, wer ich bin“ – lautet denn auch der internationale Verleihtitel des Films. So erzählt Saritas Großmutter singend die Geschichte Bhutans, die dann in rascher Bilderfolge illustriert wird. Das Camp aber will die alte Frau nicht verlassen. Warum woanders hingehen? Sie will zurück nach Bhutan. Andere Gesprächspartner berichten von Problemen im Camp; es gibt weniger Lebensmittel und Güter als früher, das Leben ist beschwerlicher geworden. Ein Lehrer erinnert sich an Jahre im Gefängnis, an Folter und Zwangsarbeit.
Zwischendurch beobachtet Basso immer wieder das Alltagsleben im Lager: Frauen, die spinnen und weben, Männer, die Matten flechten, und Kinder, die neugierig in die Kamera blicken. Die Geräusche von rieselndem Reis und aufgewühltem Wasser formen sich zu einem Rhythmus, aus dem allmählich ein Lied entsteht. Plötzlich fängt ein britischer Beamter, der das sogenannte „Resettlement“ organisieren soll, zu singen und zu tanzen an. Solche Zwischenspiele kommen immer wieder überraschend vor. Und doch verletzen sie nicht die Ernsthaftigkeit des Films: Hier geht es um den Verlust der Heimat, um die Vertreibung einer religiösen Minderheit, das Leben im Exil, den Alltag im Lager, um Hoffnung auf Rückkehr, vielleicht auch um ein neues Leben in einem fremden Land. Themen, die angesichts der aktuellen Flüchtlingskrisen in Syrien und Afrika hochbrisant bleiben.
Im Spiegel der anderen
Sarita kommt dabei die Funktion einer Dokumentarin der Geschichte ihres Volkes zu. Fortan fängt sie ihre Gesprächspartner mit der Kamera ein, sie nimmt wie eine Musikforscherin Gesänge auf, damit sie nicht verloren gehen. Ärzte und Musiker erzählen, dass sie ihre Berufe nicht mehr ausüben können, ein Mann zeigt ein Foto seiner Schulklasse, auf dem nicht nur er, sondern auch sein späterer Folterer zu sehen ist. Die Geschichte des Einzelnen wird so zur Geschichte eines Landes, das sich gegen seine eigene Bevölkerung stellt. Mit den Erinnerungen der anderen kommt auch Saritas Gedächtnis wieder zurück. Man kann den Menschen zwar die Heimat nehmen, aber nicht das Andenken daran.
Und so endet der Film mit einem wundervoll prägnanten Bild: Während Sarita in Oslo ankommt und mit einem stummen Schrei ihre Verzweiflung kundtut, bleibt die Großmutter in Nepal unter einem Baum zurück. Seine Äste und Zweige sind überall mit Fotos aus ihrem Leben behängt – als wären sie Blätter.