Das Tattoo einer Friedenstaube schimmert auf einem Handrücken mit blutig geschlagenen Knöcheln, am Handgelenk eine Uhr. Bevor das Gesicht des Mannes mit der lädierten Hand im Close-Up auftaucht, werden reine Zeichen aufgefahren. Sie bleiben einerseits für sich, fordern andererseits aber auch dazu auf, sinnstiftend verkettet zu werden. Eine Frau tritt ins Bild, auch sie ist zunächst nur Trägerin einer Zeichenkette: Regenschirm, Handtasche, Zigarette, ein rotes Oberteil. Die beiden Figuren, durch massive Betonpfeiler zunächst verdeckt, treffen sich nachts bei strömendem Regen an einem Provinzbahnhof. Bevor sich, ausgelöst durch ihre beiden Erzählungen, Rückblenden in Gang setzen, umkreisen sich die Figuren lauernd und ein wenig ängstlich. Gänge, Handbewegungen, Codes. Körper bewegen sich aufeinander zu, um sich sogleich wieder abzuwenden, Blicke treffen sich und weichen sich aus.
Der chinesische Filmemacher Diao Yinan erzählt in „See der wilden Gänse“ eine gleichermaßen simple wie höchst verworrene Geschichte über die Flucht eines Gangsters. Vokabular und Grammatik des Films bestehen im Wesentlichen aus Fragmenten und Kontrasten: Licht und Schatten, Stille und eruptive Gewalt, beobachten und beobachtet werden, jagen und gejagt werden. Der Mann, Zenong Zhou, ist ein Ganove; in der Stadt Wuhan ist er unter anderem für eine Straße namens „Liberation Avenue“ zuständig. Nachdem er bei der Konfrontation mit einer rivalisierenden Bande auf der Flucht einen Polizisten erschossen hat, möchte er sich der Polizei stellen und dabei gleichzeitig seiner Ehefrau die Prämie, die auf ihn ausgesetzt wurde, zukommen lassen. Die Prostituierte Liu Aiai, wie alle Figuren im Film nur schwer zu durchschauen, soll ihm dabei helfen.
Männergruppen auf knatternden Maschinen
„See der wilden Gänse“ ist ein Film Noir, in den ein Bikerfilm eingelassen ist – bei den kriminellen Aktivitäten der Gangs handelt es sich um großflächig organisierte Motorraddiebstähle, was dem Film erlaubt, auf knatternden Maschinen ausschwärmende Männergruppen zu zeigen (auch die Polizei, äußerlich und habituell von den Gangstern kaum zu unterscheiden, nimmt die Jagd nach Zhou per Motorrad auf).
Diao Yinan betreibt ein exzessives Spiel mit Genremotiven, wobei er dieses Spiel bei aller Wiedererkennbarkeit ständig verunklart und verwirrt. Wiederholt benützt der Film den klassischen Noir-Gestus einer Annäherung zwischen Mann und Frau über das Anzünden und Teilen von Zigaretten, wie überhaupt sehr viel und äußerst eigenwillig geraucht wird, doch die Lässigkeit ist brüchig, jede Zigarette hat etwas von einer „letzten“ Zigarette an sich. Auch die Geschlechterverhältnisse sind alles andere als genretypisch. Liu Aiai wird auf den ersten Blick als Femme fatale eingeführt, um dieses Bild sogleich wieder in Frage zu stellen. Sie ist eine androgyne Frau mit jungenhaftem Körper und schmalem Gesicht; ihre coole Fassade bricht aber mehr als einmal zusammen und weicht einer aufgescheuchten Panik.
Die boomenden Städte sind weit entfernt
Schon in „Feuerwerk am helllichten Tage“, dem bei der „Berlinale“ 2014 prämierten Vorgängerwerk, erprobte der chinesische Filmemacher das Zusammenspiel von Genre und Gesellschaftsbild. Die soziologische Dimension reduziert sich in „See der wilden Gänse“ allerdings weitgehend auf atmosphärische Kulissen. Bei allem Überschuss an Stil und Abstraktion scheinen die Gegenwartspartikel aber dennoch durch, etwa in der Wahl von Schauplätzen wie eine Textilfabrik, labyrinthische Altwarenmärkte oder nackte Betonbauten. Alles ist schmutzig, heruntergekommen und verbraucht; das China der boomenden Städte und Spekulationsblasen existiert nur als fernes Bild. Einmal laufen die mittlerweile völlig erschöpften Figuren vor einer Werbetafel für ein riesiges Immobilienprojekt entlang, wobei der Hintergrund wie die Rückprojektion aus einem alten Hollywoodfilm erscheint.
Yinan kreiert mit „See der wilden Gänse“ sein ganz eigenes „cinéma du look“. Die dekorativen und durch glühendes Neonlicht stilvoll ausgeleuchteten Oberflächen werden immer wieder buchstäblich zerschnitten. Kaum zu durchblicken ist die zeitliche und räumliche Logik. Der Film springt in der Zeit, macht Ellipsen und fragmentiert den Fluss der Bewegungen durch irritierende Zwischenschnitte. Bei der nächtlichen Durchsuchung in einem Zoo treffen die Blicke einer Giraffe, eines Elefanten und eines Tigers im Modus eines Brecht’schen Verfremdungseffekts auf das rohe Treiben der Menschen – fast so, als würde sich auch der Film in diesem Moment selbst ein wenig skeptisch betrachten.