Drama | Italien/Deutschland/Mexiko 2020 | 91 Minuten

Regie: Abel Ferrara

Ein in der Abgeschiedenheit einer Berggegend als Barbesitzer lebender Mann wird mit seinen inneren Dämonen konfrontiert. Er begibt sich auf eine Zeit und Raum überwindende Reise, bei der sich alles um ihn herum verändert, während er sich selbst nicht von seiner Vergangenheit lösen kann. Bewusst archaisch und abstrakt gehaltener Film über eine persönliche und spirituelle Sinnsuche. An die Stelle einer herkömmlichen Handlung tritt ein flüchtiges Spektakel, das durch sein Verharren im Universellen die menschliche Existenz als sinnlose Verausgabung interpretiert, im Grunde jedoch nur um die Qualen des Protagonisten kreist und deshalb weithin eher unverbindlich bleibt. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
SIBERIA
Produktionsland
Italien/Deutschland/Mexiko
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
Vivo film/Rai Cinema/Maze Pic./Piano
Regie
Abel Ferrara
Buch
Abel Ferrara · Christ Zois
Kamera
Stefano Falivene
Musik
Joe Delia
Schnitt
Fabio Nunziata · Leonardo D. Bianchi
Darsteller
Willem Dafoe (Clint) · Dounia Sichov (Exfrau) · Simon McBurney (Magier) · Cristina Chiriac (Russische Frau) · Daniel Giménez Cacho (Lehrer)
Länge
91 Minuten
Kinostart
02.07.2020
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
EuroVideo (16:9, 2.35:1, DD5.1 engl./dt.)
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Bewusst archaisch und abstrakt gehaltener Film über eine ebenso persönliche wie spirituelle Sinnsuche.

Diskussion

Hoch in den Bergen betreibt Clint (Willem Dafoe) eine Bar. Nur selten nimmt hier jemand am Tresen oder Spielautomaten Platz. Man kann sich auch nicht ganz sicher sein, ob diese Gäste überhaupt real sind. Erst wird der Einsiedler vom Geist seines Bruders heimgesucht, der ihn mit ungelösten Konflikten aus der Vergangenheit konfrontiert, dann erscheint ihm eine schwangere Besucherin, die wie eine sexualisierte Marienfigur wirkt.

Schon früh zeichnet sich ab, dass „Siberia“ weniger einer herkömmlichen Handlung als einer Traumlogik folgt. Spätestens wenn Clint in einer Höhle die Patienten eines Krankenhauses erscheinen oder er bei einer Schlittenfahrt einen vermutlich lange zurückliegenden Genozid beobachtet, wird klar, dass man in dieser Welt mit traditionellen Vorstellungen von Zeit und Raum nicht weit kommt.

Eine abstrakte Sinnsuche

Fast 50 Jahre umfasst die Karriere des US-Regisseurs Abel Ferrara mittlerweile. In der Vergangenheit drehte er Exploitationfilme wie „Die Frau mit der 45er Magnum“, nihilistische Independent-Produktionen wie „Bad Lieutenant“, größere Studiofilme wie „Body Snatchers – Angriff der Körperfresser“ sowie in jüngerer Zeit auch immer wieder Dokumentarfilme. So unterschiedlich sein ebenso düsteres wie exzessives Werk auf den ersten Blick wirkt, erzählt Ferrara dabei doch meist von Antihelden, die Schuld auf sich geladen haben und nach Erlösung streben. Und obwohl es in den neueren Filmen von Ferrara etwas entspannter zugeht – man könnte auch sagen, seit der New Yorker Katholik nach Rom umgesiedelt und zum Buddhismus konvertiert ist – kreisen sie doch immer noch vorwiegend um persönliche Krisen und existenzielle Fragen.

„Siberia“ fällt dabei etwas aus der Reihe, weil die private und spirituelle Sinnsuche des Protagonisten entschieden abstrakt bleibt. Die meisten Menschen, denen Clint begegnet, haben nicht einmal einen Namen und wirken teilweise wie Archetypen aus einem Tarot-Kartenspiel. Selbst wenn Clint auf seinen verstorbenen Vater oder seine Ex-Frau trifft, geht es zwar um zurückliegende Traumata, die jedoch niemals benannt werden. Egal was Ferraras Protagonist widerfährt, es bleibt gleichermaßen universell wie rätselhaft.

Alles befindet sich im ständigen Fluss

Anders als der Titel nahelegt, ist auch der Schauplatz kein konkreter Ort. Clint benötigt nur einen Schritt, um von der verschneiten Berglandschaft in die Wüste zu gelangen. Alles in „Siberia“ befindet sich in einem ständigen Fluss. Der nackte Körper der Ex-Frau ist zunächst weiß, dann schwarz, dann asiatisch. Das Dilemma von Ferraras Protagonisten scheint gerade das zu sein, dass sich alles um ihn herum verändert, während er selbst unfähig ist, sich von der Vergangenheit zu lösen. Es ist ähnlich wie in dem Rock-’n’-Roll-Hit „Runaway“ von Del Shannon, zu dem Clint einmal tanzt; darin bereist ein Mann die ganze Welt und sehnt sich dabei doch immer nach einer vergangenen Liebe.

Auffällig an Clints Odyssee über den halben Planeten ist, dass sie metaphorisch bleibt. Egal, ob er sich unter der Erde oder im Weltall befindet, es wird doch immer deutlich, dass man sich nicht an einem bestimmten Ort, sondern in einer wild wuchernden Psyche befindet. „Siberia“ wirkt wie der innere Monolog eines Zerrissenen; da passt es ganz gut, dass Hauptdarsteller Willem Dafoe auch den Bruder und den Vater der Figur verkörpert und deshalb einige Male buchstäblich mit sich selbst spricht.

Ein flüchtiges Spektakel

Man könnte dem Film vorwerfen, dass es in ihm um alles geht, am Ende aber nichts bleibt. Wo sich sämtliche Unterschiede und Gegensätze aufheben, entsteht notgedrungen ein Vakuum. Man ist es von Ferraras Helden allerdings gewohnt, dass sie sich mit Sex, Gewalt oder Drogen an den Rand der Erschöpfung oder gar bis zur Selbstzerstörung bringen. Auch Clint verschwendet seine Energie, weil er mit sich selbst nicht im Reinen ist. Da Ferrara das Archaische betont, entsteht zunächst der Eindruck, dass es ihm um eine kosmische Reflexion zu tun ist; tatsächlich aber kreisen Clints Qualen nur um sich selbst. Es wirkt deshalb durchaus konsequent, wenn „Siberia“ zum flüchtigen Spektakel wird, in dem die menschliche Existenz wie eine einzige, letztlich auch sinnlose Verausgabung wirkt.

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