Heshmat fährt mit seiner Frau, einer Lehrerin, im Auto zur Bank. Während sie Geld abheben soll, wartet er im ruppigen Straßenverkehr von Teheran auf der Straße. Schon hier deutet der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof an, dass diesen fast unscheinbaren Mann und seinen vermeintlich normalen Alltag ein Geheimnis umgibt, das sein Film „Es gibt kein Böses“ aber noch nicht preisgibt: Warum besteht Heshmat so darauf, sein Gehalt nicht selbst abzuholen, sondern seine Frau vorzuschicken – obwohl dies den Vorschriften im Iran völlig zuwiderläuft und seine Frau jedes Mal lange Erklärungen vorbringen muss?
Zunächst einmal blickt der Film jedoch weiter auf den unspektakulären Alltag des Paares: Gemeinsam holen sie ihre Tochter von der Schule ab, gehen einkaufen und essen Pizza. Später färbt Heshmat seiner Frau die Haare – eine wunderschöne Geste der Hilfsbereitschaft und Demut: Mann und Frau führen, trotz einiger Ärgernisse, ein normales Leben auf Augenhöhe. Mitten in der Nacht bricht Heshmat zur Arbeit auf, auf dem Weg gibt es einen weiteren Moment der Irritation. Dann sieht man ihn schließlich bei der Arbeit in einem kleinen Kabuff. Fünf grüne Leuchten blinken. Heshmat blickt durch ein kleines Fenster. Fünf rote Leuchten blinken. Heshmat wäscht Gemüse, und als das Blinken zum Dauerrot erstarrt, drückt er auf einen Knopf. Ein Knopfdruck, der blitzartig das eigentliche Thema des Films enthüllt: Die Todesstrafe im Iran.
Szenenwechsel: In einer zweiten Episode, die den Titel „Sie sagte: Du schaffst das“ trägt, arbeitet ein junger Soldat im Todestrakt eines Gefängnisses. Als er den Befehl erhält, einen zum Tode verurteilten Mann hinzurichten, diskutiert er zunächst mit seinen Zimmergenossen, dann am Telefon mit seiner Freundin. Bis er schließlich ausbricht und so seine Zukunft riskiert. In der dritten Episode „Geburtstag“ reist ein anderer Soldat in die Provinz, um seiner Geliebten einen Heiratsantrag zu machen. Doch der Tod eines Freundes, der vom Regime hingerichtet wurde, überschattet das Vorhaben. In der vierten Episode „Küss mich“ besucht eine iranische Studentin, die aus Hamburg anreist, ihren Onkel in den einsamen Bergen. Dort wird sie mit einem Geheimnis konfrontiert, dass sie tief erschüttert.
Aus dem Auto heraus gedreht
„Es gibt kein Böses“ von Mohammad Rasoulof wurde auf der „Berlinale“ 2020 mit dem „Goldenen Bären“ ausgezeichnet. Rasoulof darf ähnlich wie Jafar Panahi seinen Beruf nicht ausüben und außerdem das Land nicht verlassen, obwohl er in Hamburg seinen zweiten Wohnsitz hat. Wie und wo „Es gibt kein Böses“ entstand, wollte der Produzent Kaveh Farnam nicht verraten, um die Beteiligten zu schützen. Offensichtlich wurden den Zensurbehörden die Drehbücher der einzelnen Episoden als vier separate Kurzfilme vorgelegt. Ähnlich wie Panahi in seinen Filmen „Drei Gesichter“ und „Taxi Teheran“ wurde viel im Auto gedreht, sowohl in Teheran wie auch in der Provinz. So ist zum Beispiel nicht zu sehen, wie Heshmats Frau in die Bank geht. Die Kamera zeigt nur den Mann, wie er im Auto vor- und zurückmanövriert. Einmal nimmt er den Anruf des Bankangestellten entgegen, der eine telefonische Autorisierung der Geldabhebung verlangt – ein kurzer, beiläufiger Hinweis auf die Situation der Frauen im Iran, die ohne ihren Ehemann nicht eigenverantwortlich handeln dürfen.
Mit dieser Episode setzt Rasoulof das Thema für die anderen Teile. Man lernt Heshmat als freundlichen, hilfsbereiten Ehemann und Familienvater kennen, der gleichzeitig den grausamsten aller Berufe ausübt: Er ist Henker. Diese Erkenntnis ist für den Zuschauer ein Schock – und eine eindeutige Kritik an der Willkür des Staates, der über Leben und Tod bestimmt. Umso größere Bedeutung kommt den anderen Episoden zu. In ihnen wird die Möglichkeit der Entscheidung verhandelt, die Chance, „Nein“ zu sagen, also Widerstand oder zivilen Ungehorsam zu üben. Denn jede Entscheidung hat schwere Folgen, politisch, aber auch privat. Das wird besonders an der vierten Episode deutlich, die sich kunstvoll auf die zweite bezieht.
Der Kreislauf des Lebens
Es geht somit nicht nur um Schuld und Moral oder Freiheit und Bedrohung, sondern auch um den Kreislauf des Lebens, bei dem die erste Szene des Films mit der letzten zusammenhängt. Dass Rasoulof bei aller Kritik an der politischen Führung sein Land liebt, wird am interessierten Miteinander der Menschen deutlich, am lebendigen Trubel in Teheran, an der Schönheit der Landschaft, die der Regisseur immer wieder in aufregenden Totalen einfängt.
Auf diese Weise entsteht ein kraftvolles, feinfühlig inszeniertes und subtil verknüpftes Meisterwerk, das auch vor Pathos nicht zurückschreckt. Am Ende der zweiten Episode „Sie sagte: Du schaffst das“ hören Mann und Frau im Auto das italienische Protestlied „Bella Ciao“, gesungen von Milva. Es ist nicht die Partisanenversion des Zweiten Weltkrieges, sondern die Originalfassung von 1906, mit der die Reispflückerinnen der Po-Ebene die harten Arbeitsbedingungen unter sengender Sonne beklagten. Auch das ein Akt des Widerstands.