„Willst du dich denn nicht kennen?“, fragt Wessi Ossi einmal. Wessi ist eine junge Frau, die seit Jahren in Deutschland lebt, Ossi ihre Nomadenschwester, die ein traditionelles Leben in der mongolischen Steppe führt. Jetzt ist Wessi heimgekehrt, ob für immer oder nur auf Zeit, lässt der Film offen. Natürlich ist die Rückkehr für Wessi mit der Sehnsucht nach Wurzeln und Heimat verknüpft. Deren Suche überträgt sich auf die Schwester: Denn Wessi hinterfragt die Rituale und Traditionen der mongolischen Gesellschaft, beleuchtet grell deren patriarchalische Regeln. Und stellt Ossi damit auch die Frage, wo sie als Frau sich in dieser archaischen Welt verortet.
„Schwarze Milch“ der mongolischstämmigen Drehbuchautorin, Regisseurin und Schauspielerin Uisenma Borchu, die selbst als kleines Kind in die DDR kam, welche dann kurze Zeit später zur BRD wurde, ist also ein Film über Identität und Zugehörigkeit. „Gehört“ Wessi (Uisenma Borchu) zu ihrem deutschen Geliebten Franz (Franz Rogowski), wie dieser behauptet? Und „gehört sie nicht“ zu den Mongolen, wie einer deren Anführer sagt, als sie später die dortigen sittlichen Regeln gebrochen hat? Auffallend ist, dass hier stets Männer über derlei Zuordnung bestimmen (wollen). Natürlich ist es in Wahrheit sowieso viel komplizierter, wie dieser ruhig entwickelte Film erzählt: Wahre Identität und Heimat lassen sich letztlich nur in einem selbst finden (wobei schwesterliche Solidarität bei der Suche zumindest nicht schaden kann). Insofern ist „Schwarze Milch“ auch ein emanzipatorisches Werk, eine Loslösung von Vorstellungen, die von außen oktroyiert werden.
Die Lust, (Seh-)Gewohnheiten zu brechen
Was sich hier formal wie dramaturgisch bemerkbar macht: Die Lust, Erwartungen und (Seh-)Gewohnheiten zu brechen, ist auch dem zweiten, semibiografischen Spielfilm von Uisenma Borchu nach „Schau mich nicht so an“ (2015) anzumerken. So erzählt sie zunächst noch relativ konventionell, mit nur kleinen Widerhaken, von Wessis Rückkehr in die Mongolei, dem archaischen, tier- und naturverbundenen Leben der Nomaden und dem freundlichen, wenn auch leicht distanzierten Empfang durch Großfamilie und Nachbarn. Das könnte man – trotz des starken Intros, in dem in aller Kürze und Prägnanz die Beziehung zwischen Wessi und Franz abgehandelt wird – lange auch für einen Film halten, der vor allem vom Kampf der Kulturen handeln und fast dokumentarisch das Nomadenleben in der Mongolei einfangen will: In ruhigen Einstellungen sehen wir immer wieder beim Zubereiten und Verzehren von Speisen zu, beim Versorgen der Pferde, Ziegen und Schafe, hören den Wind um die Jurte streichen.
Doch als mit dem Auftauchen des „Eigenbrötlers“ Terbish (Terbish Demberel) Wessis erotisches Interesse an dem deutlich älteren Mann erwacht, bringt das nicht nur das Verhältnis zwischen den Schwestern und die gesellschaftlichen Strukturen ins Wanken, sondern gibt auch dem Film einen ganz neuen Schwung. Schnell wird klar: Borchu geht es bei weitem nicht nur um den Culture Clash zwischen West und Ost, zwischen Stadt und Land, zwischen Tradition und Moderne. Ihr geht es um eine darüberhinausgehende Grenzüberschreitung, darum, ihre Zuschauer aus der Komfortzone zu holen, und durchaus auch um Provokation.
Wobei diese nicht zum Selbstzweck gerinnt: Als Wessi von einem vorbeireisenden Mann vergewaltigt wird, deutet sie das brutale Geschehen nicht der hohlen Provokation wegen um („Ein Mann steht in der Tür, weil ich das so will!“), sondern um die Deutungshoheit zu behalten. Auch die tatsächliche, „dokumentarisch gefilmte“ Ziegenschlachtung hat ihre inhaltliche Anbindung. Die schwangere Ossi (Gunsmaa Tsogzol) zum Rauchen verführen zu wollen, fällt hingegen wohl doch eher in die Kategorie: Provokation um der Provokation willen.
Eindrückliche Bilder für Gegensätze
Borchu arbeitet auf der dramaturgischen wie bildlichen Ebene viel mit Gegensätzen, ohne dass dies schematisch wirken würde: Die entindividualisierten Namen „Wessi“ und „Ossi“ sprechen für sich. Aber auch Wessis weiße und Terbishs dunkle Haut, ihre Jugend und sein Alter, die Enge und das gedimmte Licht der Jurte gegen die Weite und Helligkeit der Wüste Gobi. Kameramann Sven Zellner hat eindrückliche Bilder für diese Antagonismen gefunden und fängt Menschen, Tiere und Landschaft in berückend schönen, sinnlichen Bildern ein.
Und dann wäre da noch das Motiv der Milch – der bekannten weißen sowie der „schwarzen Milch“ des Filmtitels: Für die Mongolen sei Milch „das Allerwertvollste“, erklärt Ossi einmal. Tatsächlich wird hier ständig etwas aus der Flüssigkeit zubereitet, gegessen oder getrunken. Und doch lässt sich Ossi von Wessi irgendwann dazu verführen, wie Kleopatra in Stutenmilch zu baden – etwas, was sie zuvor als absurde Verschwendung von sich gewiesen hatte.
Die schwarze Milch steht laut Uisenma Borchu für die unsichtbare, oft übersehene Kraft der Frauen in einer patriarchalischen Welt. Natürlich denkt man bei dem Bild unwillkürlich an die berühmte „Todesfuge“ von Paul Celan, wo die „schwarze Milch der Frühe“ für die vollkommene Hoffnungslosigkeit steht – doch führt diese Assoziation hier wohl in die Irre. Ebenso wie der Gedankengang zu Andrej Tarkowski und der verschütteten Milch, die in seinen Filmen ein Vorzeichen der Katastrophe ist. Der Bezug zu Tarkowski bietet sich aber auch in anderer Hinsicht an, etwa in der wiederkehrenden Verwendung von Spiegelmotiven in Borchus Film. Wobei auch hier die Verbindung zufällig sein könnte: Reflexionen sind im Zusammenhang mit Identitätsfragen ein beliebtes filmisches Mittel. Klar festhalten lässt sich hingegen, dass „Schwarze Milch“ ein an interessanten Bezügen, Motiven und Denkansätzen reicher, gelegentlich rätselhafter Film ist, der mitreißt – und lange nachhallt.
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