Weißer weißer Tag

Romain Antony | 21.01.2023

Ein bemerkenswerter Beginn: die Kamera verfolgt sehr lange vogelperspektivistisch eine schwarze Limousine, die auf leerer, isländischer Straße inmitten von gelegentlichen Nebelschwaden fährt. Man gewöhnt sich an die Kamerafahrt, schweift vielleicht mit seinen Gedanken ab, sieht sich auf Details der Landschaft ein, dann ein Schockmoment, überraschend, abrupt, unerwartet. Der Wagen durchbricht in einer Kurve die Leitplanke. Mich erinnerte diese Fahrt an die Anfangssequenz von „Shining“ (1980) von Stanley Kubrick, wo der rote Wagen sich auf einer Serpentinenstraße durch einsame Gegenden zum Horrorhotel schlängelt. Auch „Das süße Jenseits“ (1997) von Atom Egoyan kommt mitr in den Sinn. Auch in diesem Film rutscht ein Schulbus von der Straße in einen zugefrorenen See und versinkt. Eine Frau ist tot. Ihr Mann, Ingimundur (Ingvar Eggert Sigurdsson), ein liebevoller Großvater und Polizist in vorgezogener Freistellung, der sich rührend um seine Enkelin kümmert, versucht zu trauern, was nicht heißt, dass es ihm gelingt. Für seine Tochter und deren Familie renoviert er ein Haus. In hervorragender Kameraarbeit fokussiert Maria von Hausswolff diese Haus von außerhalb, immer aus derselben Position. In langen Einstellungen wechseln Tageszeiten, Jahreszeiten. Persönlichen Dinge, die ihm vom Schul-Arbeitsplatz seiner Frau ausgehändigt wurden, liefern ihm Hinweise, dass sie eine außereheliche Beziehung gehabt haben könnte. Der Film beschreibt seine Verunsicherung im Nachhinein über die Ehe, die Liebe, das Wesen seiner Frau, die Suche nach dem Geliebten und die Auseinandersetzung mit ihn. Unterbrochen wird seine Unrast durch Renovierungsarbeiten am Haus und durch fürsorgliche Beziehung zu seiner Enkelin, wobei er allerdings mit zunehmender innerer Vereinsamung und Aggression fast den Kontakt verliert. Der Film handelt von männlicher Unfähigkeit zu trauern. Ein plötzlicher Todesfall bringt das Risiko mit sich, in einem Verarbeitungsprozess stecken zu bleiben, in Resignation, Depression, in Verbitterung mit Umwelt und Schicksal zu hadern. Unwirklichkeitsempfindungen und Nichtwahrhabenwollen treten immer wieder auf, stumpfen die Gefühlswelt ab, bis langsames Begreifen einsetzt. Die von Ingimundur aufgesuchten Therapiestunden (schon wieder wird in einem Film therapeutisches Handwerk zum Kopfschütteln gezeigt; überzeugende Gegenentwürfe zeigen die Serien „In Therapie“ von Éric Toledano und Olivier Nakache aus Frankreich und vor allem die hervorragende Serie „Safe“ von Caroline Link) helfen ihm dabei nicht, statt Trauer beherrscht Wut ihn und sein Verhalten. Als er den ehemaligen Geliebten seiner Frau nachts aus dessen Haus lockt und ihn, mit einem Gewehr drohend, in ein vorbereitetes, geschaufeltes Loch schickt, muss man als Zuschauer befürchten, dass er dekompensiert und die Realitätskontrolle verliert. Objekte im Film (das Haus, Pferde, Landschaften...), stellen metaphorische Gegengewichte dar zum innerpsychischen Krisenverlauf , so auch der Tunnel, den er mit seiner Enkelin auf dem Rücken durchschreitet, einer heilsamen Veränderung entgegen, in der die heraus geschriene Wut im Tunnel als Lachen widerhallt. Erst nachdem Ingimundur seine Frau als Person wahrnehmen konnte, mit ihrer Persönlichkeit, ihrer Eigenart, ihren Bedürfnissen, konnte er sich mit ihr identifizieren und sich von seinen idealisierenden Vorstellungen verabschieden. In einer schmerzlichen, tränenreichen Erinnerung erscheint sie ihm verführerisch und liebevoll zugewandt. Nicht an- und festklammernde Bindung, sondern schöne Erinnerungen, an geteiltes Glück sollen bleiben. Der Film enthält großartige, erzählerisch auf die Essenz der Aussage konzentrierte Momente, Bilder und Landschaftsaufnahmen von imposanter Schönheit. Und weiß ist der Himmel und weiß ist die Erde. Und die Botschaft ist die Erinnerung. Und die Erinnerung ermöglicht Trauer. cf. auch www.filmekommentieren.wordpress.com