Drama | Deutschland 2019 | 81 Minuten

Regie: Johannes Maria Schmit

Ein junger Transmann in der brandenburgischen Provinz arbeitet auf einer Straußenfarm, kümmert sich um seine Großmütter und fantasiert immer wieder einen Trupp verkleideter, queerer Gestalten herbei. Als er sich in einen Fernsehtechniker verliebt, wächst die Sehnsucht, mit ihm nach Berlin zu ziehen. Ohne dramatisch zuzuspitzen, lässt das sanfte Drama in ausgeruhten und dennoch auf Nähe drängenden Bildern den szenischen Miniaturen von täglichen Verrichtungen viel Raum. Gerade dadurch vermittelt sich die Spannung zwischen Aufbruchslust und dem Wunsch anzukommen umso intensiver. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Schuldenberg Films
Regie
Johannes Maria Schmit
Buch
Tucké Royale
Kamera
Smina Bluth
Musik
Nguyen Baly · Tara Transitory
Schnitt
Antonella Sarubbi
Darsteller
Tucké Royale (Markus Hawemann) · Monika Zimmering (Sabine) · Jalda Rebling (Alma) · Minh Duc Pham (Duc)
Länge
81 Minuten
Kinostart
12.08.2021
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Liebesfilm

Ein „queerer Heimatfilm“ über einen jungen Transmann zwischen der stillen Geborgenheit in der brandenburgischen Provinz und den Glücksversprechen der Großstadt.

Diskussion

Zunächst einmal sieht man nur die hohen, üppig grünen Bäume, durch die sachte der Sommerwind streift. Zunächst einmal sieht man nur, wie jemand Stroh mit einer Mistgabel verteilt und Futter in schmale Tröge füllt. Zunächst einmal sieht man nur das Gesicht eines alten Menschen, erschrocken, kindlich, sich abfindend.

Und erst dann kommt, jeweils einige Sekunden später, die Auflösung, entweder sehr langsam durch eine Rückwärtsfahrt, oder abrupt durch den Schnitt: Hier haben zwei Männer bei offenem Fenster Sex. Das Futter ist für Straußenvögel, die nun ihre abstrus langen Hälse abwechselnd in den brandenburgischen Himmel und hinunter in den Futtertrog tauchen. Die alte Frau betrauert jemanden, den sie liebte.

Liebe, Tod und Fressen in ewiger Reihe

Bevor man also exakt weiß, was in Johannes Maria Schmits „Neubau“ passiert, kann man schon sehen, wie das Jähe und das Endlose, das Besondere und das Gewöhnliche verschmelzen in diesen ausgeruhten Bildern von Kamerafrau Smina Bluth. In szenischen Miniaturen werden Liebe, Tod und Fressen gleichsam über Bande kenntlich als Teil einer ewigen Reihe von Varianten und Wiederholungen, zur melancholisch grundierten Poesie.

Basierend auf dem Drehbuch seines Hauptdarstellers Tucké Royale porträtiert Schmit in seinem mit dem „Max-Ophüls-Preis“ für den Besten Spielfilm ausgezeichneten Debüt einen auf den ersten und zweiten Blick ziemlich normalen jungen Mann. Man sieht Markus (Royale) beim Bügeln und beim Masturbieren, beim Füttern der Tiere und beim Autofahren, immer wieder beim Joggen und beim einsamen Tanzen in der eigenen Wohnung. Fast täglich bringt er seiner dementen Oma und deren Lebensgefährtin (Jalda Rebling und Monika Zimmering) Einkäufe vorbei, bietet ihnen seine Schulter zum Trost und hilft, wenn Oma nicht mehr weiß, wie man isst. „Na, machen wir mal ’ne Pause“, sagt er dann. Nur kein Druck.

Sehr ruhig und zart gehen hier alle miteinander um. Mit großer Selbstverständlichkeit und in kargen Dialogen erzählt der Film auch von den Narben an Markus’ Brust, die von seinem früheren Frauenkörper zeugen. Einmal sagt er, dessen Mutter früh verstorben ist, zu seiner vergesslichen Oma: „Mama ist tot. Und jetzt weiß sie gar nicht, dass sie einen Sohn hat.“ Eine tonlose Trauer über so etwas wie die eigene Unverortbarkeit schwingt da durch die wenigen Zeilen.

Ein Lebensgefühl am Rand

„Neubau“ will offenkundig kein Film über ein Nischenthema sein, sondern im Kleinen etwas Universelles zeigen, über ein Lebensgefühl am Rand. In sanft drängenden, aber nie aufdringlich auf Nähe bestehenden Bildern fängt Kamerafrau Bluth vor allem Verrichtungen ein, Gesten des Kümmerns und der eigenen Bedürfnisbefriedigung, dazwischen natürlich viel Landschaft und Warten: So ist eben das Leben in „Neubau“, wo die Wege jäh an einem Feldrand enden, wo die Buchfinken zwitschern und das Handy keinen Empfang hat. So ist das Leben aber vielleicht überhaupt, wenn man mal nicht so viel redet.

Einmal kommt ein Englisch sprechendes schwules Paar zur Straußenfarm, auf der Markus aushilft. Die beiden Fremden machen ein verliebtes Selfie und ziehen wieder ab, ohne den Landburschen eines Blickes zu würdigen, sehnsüchtig blickt Markus ihnen nach. Zu leben, wo andere Urlaub machen, heißt umgekehrt, an die Gegend gekettet zu sein, die andere schnell wieder verlassen können, um in der Großstadt ihr aufregendes Leben zu feiern.

Tagträume mit Fantasiewesen

Wie wird man da nicht verrückt vor Einsamkeit? Von guten Geistern verlassen ist Markus keineswegs: In Tagträumen gesellen sich immer wieder freundliche, bunt verkleidete Gestalten fluider Geschlechtlichkeit zu ihm, sitzen entspannt in der Sonne, lackieren sich neben ihm im Bad die Nägel und blinzeln ihm gütig zu. Auch diese Fantasiewesen scheinen auf ihn zu warten. Sie bedrängen ihn jedoch nicht, sie haben Zeit, als gebe es sie schon immer. 

„Neubau“ nennt der Regisseur einen „queeren Heimatfilm“. Er verzichtet auf dramatische Zuspitzungen, obwohl der Plot es hergäbe. In beiläufigen Begegnungen geschieht es zum Beispiel, dass ein Wesen wie aus Markus’ Tagträumen tatsächlich einen Weg zu ihm findet: Duc (Minh Duc Pham), ein graziler junger Mann mit vietnamesischen Wurzeln. Ob mit diesem auch die Zukunft ihren Auftritt hat, daran sät Ducs Beruf Zweifel: Fernsehtechniker. „Ist am Aussterben“, sagt dieser selbst. Es ist nicht ohne Komik (oder Tragik), dass Duc, der bereits jahrelang in Markus’ Sehnsuchtsstadt Berlin gelebt hat, Gefallen an der brandenburgischen Hügellandschaft findet und bleiben möchte. Doch anstatt es jetzt doch noch krachen zu lassen, vertraut „Neubau“ auch hier dem weichen Verlauf zwischen den Gegensätzen und hält bis zuletzt die Spannung zwischen dem Wunsch anzukommen und dem schmerzhaften Verlangen nach Aufbruch.

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