Die Leute wollen die Zukunft, nicht die Vergangenheit, sagt Marthe Hoffnung. Und doch ist die bald hundertjährige, immer noch quicklebendige Frau stets bereit, ihr Leben erzählerisch auszubreiten. Es ist eine ganz erstaunliche Biografie: Als junges Mädchen war es ihr und ihrer jüdischen Familie gelungen, dank gefälschter Papiere aus dem von der Wehrmacht besetzten Metz in die sogenannte Freie Zone nach Südfrankreich zu fliehen. Doch ihr Verlobter Jacques wurde von den Besatzern als Mitglied der Résistance erschossen und ihre Schwester Stéphanie nach Auschwitz deportiert. Nach der Befreiung von Paris meldete sich Hoffnung als Krankenschwester zur französischen Armee.
Witz und ein unbändiger Wille
Weil Deutsch in ihrer lothringischen Heimat ihre zweite Muttersprache war, wurde sie zum Geheimdienst überstellt, der sie nach mehreren missglückten Versuchen über die Schweiz nach Deutschland schleuste. Unter dem Namen Martha Ulrich und mit der Legende, eine aus Metz stammende Deutsche zu sein, berichtete sie mit Hilfe eines komplizierten Codeverfahrens fortan über die Stimmung in der deutschen Bevölkerung und über Truppenbewegungen der Wehrmacht. Sie ließ die Alliierten wissen, dass der propagandistisch aufgeladene deutsche „Westwall“ fast nur noch einer Attrappe ähnelte und wo die Deutschen Hinterhalte für die Alliierten errichtet hatten. Der Lebensgefahr, in der sie sich dabei ständig befand, trotzte Hoffnung mit Klugheit, Geistesgegenwart, Witz und dem unbändigen Willen, ihre toten Freunde und Verwandten zu rächen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges machte Marthe Hoffnung kein Aufheben um ihre Erfahrungen. Sie heiratete einen angehenden US-Neurowissenschaftler, ging 1956 mit ihm in die USA, wurde Anästhesistin, bekam zwei Kinder. Erst 1996, mit 76 Jahren, meldete sie sich auf eine Anzeige der Spielberg Foundation, um für das audiovisuelle Archiv mit Zeitzeugenberichten von Überlebenden des Holocaust Auskunft zu geben. Vier Jahre später wurde sie die „Medaille Militaire“, eine der höchsten Auszeichnungen der französischen Armee, geehrt. Und stand für Interviews und Vorträge zur Verfügung. 2002 wurde ihre Autobiografie „Behind Enemy Lines“ veröffentlicht, die 2018 unter dem Titel „Im Land des Feindes“ in deutscher Sprache erschien. Dass ein abendfüllender Porträtfilm folgen musste, war nur eine Frage der Zeit.
„Im Land des Feindes“
Die Dokumentaristin Nicolas Alice Hens hat sich dieser Aufgabe gestellt und folgt der agilen Hundertjährigen mit der Kamera, die sie gemeinsam mit Gaetan Varone, mitunter auch selbst führt. Zahlreiche Szenen zeigen Marthe Hoffnung mit jüngeren und älteren Zuhörern, in Schulen, Universitäten oder Bibliotheken. Die Zeitzeugin beantwortet alle Fragen detailliert und mit unendlicher Geduld; man spürt, dass diese Auftritte und Reisen eine Art Lebenselixier sind – und eine moralische Verpflichtung. Denn sie weiß sehr wohl, dass die Gespenster der Vergangenheit in neuer Gestalt in der Gegenwart aufscheinen, und sie begreift sich durchaus als Mahnerin.
Dass sie dabei von ihrem Mann begleitet wird, versteht sich von selbst. Er macht im Film nicht viele Worte; seine Anwesenheit an ihrer Seite ist eine Liebeserklärung für sich.
Die Erzählungen von Marthe Hoffnung werden im Film mit Archivfotos oder atmosphärischen Realszenen unterlegt, die mitunter in animierte Sequenzen übergehen. Diese Animationen, inzwischen eine Modeerscheinung im zeitgenössischen Dokumentarfilm, erweisen sich hier allerdings als reichlich überflüssig: Marthe Hoffnung ist lebendig genug und ihre Worte sind voller atmosphärischer Schilderungen, die im Kopf des Zuschauers durchaus eigene Bilder ergeben und des tricktechnischen Beiwerks im Grunde gar nicht bedurft hätten.
Ein Hauch von Erschöpfung
Die Inszenierung integriert auch einige Interviews, die die Regisseurin mit der Protagonistin geführt hat. Die Kamera zeigt das Gesicht aus nächster Nähe, eine zärtliche Annäherung, die Raum lässt für Momente, in denen die Unermüdlichkeit des selbst gestellten Auftrags einem Hauch von Erschöpfung weicht. Ganz und gar unzerbrechlich ist Chichinette eben auch nicht. Woher dieser lautmalerische Spitzname kommt, erfährt man auch: Er bedeutet so viel wie „kleine Nervensäge“ und hat unter anderem mit der Hartnäckigkeit zu tun, die Marthe Hoffnung einst an den Tag legte, um in die französische Armee aufgenommen zu werden.