Ein junges Paar ist auf der Flucht quer durch Nordamerika. Erinnerungen an das zum Klischeebild geronnene Duo Bonnie & Clyde drängt sich auf. Bonnie und Clyde waren Kriminelle. Sie haben Banken ausgeraubt und an die Outlaws des 19. Jahrhunderts erinnert. Auf den ersten Blick mögen die Hauptfiguren von „Queen & Slim“ viel mit ihnen gemeinsam haben. Auch sie befinden sich auf der Flucht vor der Polizei und werden als Verbrecher gesucht, weil sie einen Polizisten erschossen haben. Auch sie fahren mit wechselndem Ziel kreuz und quer durch die USA und werden als Widerständler gegen das Establishment bewundert. Aber in einem unterscheiden sie sich ganz wesentlich von den vielen Gangstern, die Hollywood mit großem Eifer für die Nachwelt glorifiziert hat: Sie sind Opfer und keine Kriminellen.
Voreingenommenheit und Rassismus
Was zu Beginn von „Queen & Slim“ passiert, ist US-amerikanische Alltäglichkeit. Es ist das aus Voreingenommenheit und Rassismus geborene Unrecht, das der schwarzen Bevölkerung vor allem in den Zentren des Landes mit grausamer Regelmäßigkeit widerfährt, das nutzlose Anklagen und Prozesse auslöst, Menschen gegeneinander aufhetzt, immer neuen Hass schürt und Märtyrer aus Menschen macht, die gar keine Märtyrer sein wollen.
Queen und Slim, zwei Schwarze, die sich im Internet gefunden und gerade eine wenig gelungene erste Begegnung in einem einfachen Restaurant hinter sich haben, wollen in Slims Wagen nach Hause fahren, als sie von einem weißen Polizisten wegen eines geringfügigen Abweichens von den Regeln des Straßenverkehrs angehalten und in eine Auseinandersetzung verwickelt werden, die handgreiflich wird. Unwillentlich erschießt Slim dabei den aggressiven Polizisten.
Den Rest der 132 Filmminuten verbringt man mit Queen und Slim, von deren Vergangenheit bisher so gut wie nichts zu erfahren war. Die Fahrt geht in den Süden, Richtung Florida, mit dem Ziel, nach Kuba zu entkommen. Auch im weiteren Verlauf der Handlung gibt es nur knappe, bruchstückhafte Informationen über die durch ein unerwartetes Geschick miteinander verbundenen Flüchtenden.
Queen und Slim werden nur in geringem Maß personalisiert; sie sind Symbolfiguren in einer Story, die ihrerseits eine der dunkelsten und tragischsten Seiten Amerikas spiegelt. Man kann sie heutzutage überall finden und ihr Schicksal wird tagtäglich in den Medien breitgetreten.
Das Gegenteil eines Actionfilms
Was den Film bemerkenswert und wichtig macht, ist die Art und Weise, wie die aus der Musikvideo-Szene bekannte Regisseurin Melina Matsoukas in ihrem Spielfilmdebüt mit den landläufigen Ereignissen der Flucht umgeht. Alle herkömmlichen Erwartungen eines vornehmlich auf Spannung ausgerichteten Road Movies, das aus Verfolgtsein, Verstecken und den damit verbundenen Gefahren Kapital schlägt, werden enttäuscht. „Queen & Slim“ ist das Gegenteil eines Actionfilms. Es ist ein Film des Verweilens, ein Film, der sich Zeit zum Beobachten lässt, der innehält, wo die Kamera normalerweise vorbeischauen würde, der Zeit hat, Charaktere aus dem Nichts zu entwickeln und ihnen dabei zuzusehen, wie die Welt auch sein kann, wenn man den Anlass der Flucht einen Augenblick lang vergisst.
Wann hat es schon einmal einen Film in diesem Genre gegeben, in dem die von der Polizei Verfolgten am Straßenrand anhalten, um ein weidendes Pferd zu streicheln oder in einem ländlichen Lokal am Wegesrand zu tanzen? Das bedeutet nicht, dass es keine Szenen der gewaltsamen Konfrontation gäbe oder dass die Inszenierung davor gefeit wäre, hier und da genreübliche Muster zu bedienen. Doch der Tonfall des Films, die nach innen gerichtete Darstellung, die Bildführung und der formale Duktus sind darauf ausgerichtet, nachdenklich zu machen und von all den Denkklischees zu befreien, die sich durch Schlagzeilen und Sensationsberichte im Kopf festgesetzt haben mögen.
Ein rarer Ausnahmefilm
Gewiss ist „Queen & Slim“ kein Film ohne Fehl und Tadel. Für manchen ist er auch schlicht zu lang. Doch unter den immer zahlreicheren Filmen, die sich diesem Thema widmen, nimmt er eine Ausnahmestellung ein, die man im aktuellen US-amerikanischen Filmschaffen weder erwartet hätte noch versäumen sollte.