UnRuhezeiten
Tragikomödie | Deutschland 2017 | 85 Minuten
Regie: Eike Weinreich
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2017
- Produktionsfirma
- Theater Oberhausen/Freudefilm
- Regie
- Eike Weinreich · Alexej Hermann
- Buch
- Eike Weinreich · Sergej Lubic
- Kamera
- Alexej Hermann · Katharina Hauke
- Schnitt
- Jan Krämer
- Darsteller
- Moritz Peschke · Jürgen Sarkiss · Thieß Brammer · Michael Witte · Ulrich Matthes
- Länge
- 85 Minuten
- Kinostart
- 31.10.2019
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Tragikomödie
- Externe Links
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Satirisch überspitzes, mit viel Insiderwissen durchsetztes Low-Budget-Drama über ein fiktives Stadttheater.
„Ruhezeit!“, ruft ein polternder Bühnenmeister aus dem Hintergrund Richtung Regiepult. Sekunden später sind alle Bühnenarbeiter verschwunden. Nur der ambitionierte Jungschauspieler Thieß (Thieß Brammer) bleibt in den Seilen hängen: Niemand holt den konsternierten Darsteller aus dem Fluggeschirr. Wie ein vergessenes Requisit baumelt er in der doppelbödigen Theatersatire von Eike Weinreich und Alexej Hermann minutenlang über dem Bühnenboden. Für ihn hat sich die aktuelle Probe zum obligatorischen Weihnachtsmärchen zum persönlichen Vorweihnachtsfiasko entwickelt.
Schon in dieser drastisch-boshaften, aber auch sarkastisch überzeichneten Szene bündelt sich der intellektuelle Furor, den „unRuhezeiten“ in seinen gelungensten Momenten entfacht. Anstelle eines branchenüblichen Fotobuchs zum Ende einer Intendanz ist diese pseudodokumentarisch inszenierte und ausgesprochen selbstreferentielle Tragikomödie in der Spielzeit 2016/2017 am Theater Oberhausen entstanden. Eike Weinreich spielte als Jungschauspieler im Ensemble des nordrhein-westfälischen Theaters unter Peter Carp, ehe der ans Mehrspartenhaus in Freiburg abwanderte, was auf der Plotebene des hinterlistigen Diskursfilms eine wesentliche dramaturgische Klammer bildet.
Ein zwangsverordneter Neuanfang
Quasi im Minutentakt wechseln sich in dieser Theatersatire grell-komische mit grotesk-überzogenen Szene-Schnipseln ab. Zwischen kurzweiligen Proben- und intriganten Büro- oder Kantinenszenen gelingt es den beiden Regisseuren, nahezu alle Sparten und Mitarbeiter des Hauses auf kluge Weise einzuspannen.
Während ehemals etablierte DEFA-Schauspieler wie Torsten Bauer im Alter immer öfter als Lückenfüller eingesetzt werden („Jetzt bin ich schon so lange Schauspieler... und muss nun Ärsche schleppen.“), versuchen die naiv-blauäugigen Nachwuchskräfte Thieß und Moritz (Moritz Peschke) mit teilweise dummdreisten Mitteln, mehr Aufmerksamkeit zu erlangen. Denn ein Intendantenwechsel bedeutet in Deutschland häufig auch einen zwangsverordneten Neuanfang für viele Schauspieler, die sich nach neuen Häusern oder Ensembles umsehen müssen.
Aus Angst vor der drohenden Nichtübernahme durch den neuen Intendanten, dem der aalglatte Kulturreferent radikale Etatkürzungen und Lesungen in Shoppingmals verordnet, driften beide in einer urkomischen Szene ins renommierte Deutsche Theater nach Berlin. In der Hoffnung auf Kontakte stoßen sie für wenige Minuten auf einen der Starschauspieler des Hauses: Ulrich Matthes, der sich herrlich selbstironisch selbst spielt und am Handy im Gespräch mit seiner Agentin vor allem ein Ziel verfolgt: möglichst viel Geld zu verdienen, am liebsten „in einem Schwarz-weiß-Film, gerne künstlerisch“, um bloß nicht wieder für handelsübliche Fernsehware gecastet zu werden.
„Was sollen wir denn in München?“
Dass die beiden kurz zuvor in der Kantine dem Intendanten des Hauses (Ulrich Khuon) gegenübersaßen, ohne von ihm Notiz zu nehmen, gehört zu den gelungensten Meta-Szenen des Films, der mit spitzzüngigen Insidergags aus der realen Welt des deutschsprachigen Theaterszene glänzt, aber auch die Konkurrenz zwischen den deutschen Kunstmetropolen Berlin, Hamburg und München („Was sollen wir denn in München?“) und der sogenannten „Kulturprovinz“ genüsslich ausspielt.
Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf gesellschaftspolitisch hochrelevanten Diskursthemen wie der Gender-Gap, der #MeToo-Bewegung oder den prekären Vertragsbedingungen, die im deutschen Theaterbetrieb seit Jahren mit Schärfe debattiert werden. „Normalerweise ist man spätestens nach zehn Jahren am Theater drogenabhängig oder psychisch krank“, kommentiert das so beiläufig wie drastisch der scheidende Intendant (Hartmut Stanke) des fiktiven Stadttheaters, das nicht zufällig „Armstadt“ heißt.
Die hermetisch in Szene gesetzte und mit viel Insiderwissen durchtränkte Betriebssatire richtet sich an ein theateraffines Publikum sowie die gut 40.000 Beschäftigten, die Abend für Abend dafür sorgen, dass sich irgendwo in Deutschland – erst recht abseits der Metropolen – der Vorhang hebt. Mit viel Tempo, Sprachwitz und einer gelungenen Besetzung, die Assoziationen zu „Casting“ von Nicolas Wackerbarth weckt, ist „unRuhezeiten“ eine zwar anstrengende, aber doch weitgehend gelungene Hommage an den alltäglichen Wahnsinn des zwischen Resignation und Aufbruch mäandernden Theaterbetriebs, der ganzjährig und außerhalb der überregionalen Feuilletons stattfindet.
Ein bissiger Kommentar
Mit dem raffinierten Zusammenspiel aus Machtasymmetrien und der fehlenden Trennlinie zwischen Kunst und Alltag im Leben der Darsteller formuliert die ambitionierte Low-Budget-Produktion obendrein einen bissigen Kommentar auf die Praxis des Kunstschaffens in Deutschland, das mehrheitlich von Selbstausbeutung lebt und mit spürbar nachlassender institutioneller Unterstützung kämpft.