Dokumentarfilm | Deutschland/USA 2018 | 76 Minuten

Regie: Rainer Komers

An der historischen „Route 66“ quer durch die USA liegt die Kleinstadt Barstow, Kalifornien. Hier verbrachte der Afroamerikaner Stanley „Spoon“ Jackson seine Kindheit und Jugend, bevor er 1978 wegen Mordes zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde. Passagen aus seiner Autobiografie, die er aus dem Off einspricht, montiert der Dokumentarfilm mit einer Ortsbegehung. Auf beeindruckend unspektakuläre Weise konturieren sich eine Biografie, die von familiärer Gewalt, Armut und Rassismus gezeichnet ist, und das Porträt einer so verödeten wie mythologisch aufgeladenen Landschaft und seiner Bewohner. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
BARSTOW, CALIFORNIA
Produktionsland
Deutschland/USA
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Komers Film/Strandfilm
Regie
Rainer Komers
Buch
Rainer Komers
Kamera
Rainer Komers
Schnitt
Gregor Bartsch
Länge
76 Minuten
Kinostart
03.10.2019
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Doku-Porträt des afroamerikanischen Dichters Stanley „Spoon“ Jackson, in dem Bilder seines Heimaststädtchens mit den Worten seiner Autobiografie in Bezug gesetzt werden, die im Gefängnis entstand.

Diskussion

Im Spätsommer legte sich Stanley „Spoon“ Jackson manchmal unter die schwere Eisenbahnbrücke von Barstow, um das Zittern des Bodens zu spüren, wenn die Züge darüber rumpelten. Oder er rannte mit den Hunden durchs trockene Flussbett und sah zu, wie die Schatten der Waggons vorbeisausten. Spoons Erinnerungen an den Ort seiner Kindheit sind bildhaft und sensuell: die warme Sonne, das Licht, die Farben, das Einsinken der Füße im weichen Sand. Neben den hellen Bildern gibt es aber auch dunkle: der peitschende Schlag eines Kabels auf nasser Haut.

Poetikkurse im Knast

Dass die parallel zu den Gleisen verlaufene Crooks Street, in der „Spoon“ Jackson mit 14 Brüdern aufwuchs, jetzt Riverside Drive heißt, hat der afroamerikanische Lyriker nicht mehr unmittelbar erfahren. Seit 1978 sitzt er wegen Mordes im Gefängnis – lebenslänglich und ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung. Hier hat er einen Poetikkurs besucht und zu schreiben begonnen, Gedichte vor allem. 2010 erschien seine Autobiografie „By Heart“. Aus ihr hört man den Autor in „Barstow, California“ aus dem Off Passagen vorlesen; zu Gesicht bekommt man ihn kein einziges Mal.

Der Filmemacher Rainer Komers richtet die Kamera stattdessen auf die Landschaft: versteppte Flächen, Präriegrasbüschel, weite Straßen, Gleise, im Hintergrund ein kleiner Hügel, den man „B-Hill“ nennt. Und immer wieder Güterzüge. Ihr rhythmisches Rattern ist so etwas wie die akustische Signatur des Films – für die Jackson-Brüder war es ihre „Schlafmusik“. Aber es gibt auch andere Geräusche: der Wind, Militärhubschrauber, der Sound des lokalen Radiosenders.

Auf halber Strecke

„Barstow, California“, nach „Nome Road System“ (2004/2005) und „Milltown, Montana“ (2009) der dritte Teil von Komers’ „The American West Trilogy“, legt zwei Ansichten zu einer Art Doppelporträt aufeinander: auf der einen Seite die kalifornische Mojave-Wüste und Barstow, eine an der historischen „Route 66“ gelegene Kleinstadt auf halben Weg zwischen Los Angeles und Las Vegas, die von den ökonomischen Kreisläufen längst abgehängt ist. Auf der anderen Seite Spoon und seine Familie – eine Biografie, die von familiärer Gewalt und Armut ebenso geprägt ist wie von Rassismus. Spoons Vater war in den 1940er-Jahren aus dem Süden geflüchtet. Nachdem er im Streit einen weißen Mann erschlagen hatte, musste er damit rechnen, gelyncht zu werden. Auf diese Weise landete er in Barstow, wo er für die Santa-Fe-Eisenbahngesellschaft arbeitete.

Seine Söhne sammelten Schrott und Pfandflaschen, Spoon klaute für Drogen und Alkohol. Zwei seiner Brüder führen an den Ort, der einmal die Crooks Street gewesen sein muss. Einer findet ein Stück von einem Ofenrohr, vielleicht hat es einmal zu ihrem Haus gehört, einer „farblosen, grauen, kleinen rechteckigen Zementbaracke mit zwei Zimmern“, wie Spoon sie beschreibt.

Klar und konzentriert

„Barstow, California“ ist Landschaftsfilm, Ortsbegehung, biografische Skizze und eine Literaturverfilmung anderer Art – die Bilder illustrieren nicht, sie werden dem Text zur Seite gestellt. Es gibt keine großen Gesten, aber viel Weite, Raum und Schönheit, kein strenges Konzept, aber Konzentration und Klarheit. Komers sucht die „High Desert’s Radio Station“ auf und Calico Ghost Town, eine Geisterstadt in der Wüste. Die am Highway gelegene Bar, die die Menschen als sozialen Ort schätzen, wird schon bald im Abseits einer Sackgasse liegen.

In Fort Irwin, dem nationalen Übungs- und Qualifizierungszentrum der US Army, probt eine Einheit den militärischen Einsatz auf einem arabischen Markt. Eine Universitätsprofessorin, die mit ihrer Klasse zu Besuch ist, erzählt von Felsformationen, Oxidierungsprozessen und mineralischen Reaktionen. Früher wurden in der Gegend um Barstow Silber und Borax-Mineral gewonnen, bis heute wird Gold abgebaut.

Die Zusammenhänge, die zur Verödung von Barstow geführt haben, müssen nicht ausformuliert werden. Sie sind auch so sicht- und hörbar: mit jedem tutenden Güterzug, der an dem Ort vorbeirattert, als habe er nie existiert.

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Eine Sammlung von Jacksons Texten hat Rainer Komers unter dem Titel „Felsentauben erwachen auf Zellenblock 8: Gedichte und Prosa“ als Hardcover-Ausgabe veröffentlicht. edition offenes feld, Dortmund 2017.

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