„La Vérité“ basiert auf einer Lüge. Die kürzlich veröffentliche Autobiografie der französischen Schauspieldiva Fabienne Dangeville (Catherine Deneuve) biegt das eigene Leben so hin, dass ihm nie die nötige Grandezza fehlt. Der Titel, der die Wahrheit über ihr eigenes und das Leben ihrer Zeitgenossinnen verspricht, ist ein affektierter Selbstvermarktungstrick, mit dessen Hilfe Fabienne von dem erzählt, was ihr wirklich wichtig ist, sprich: von dem, was fasziniert, was bewegt, was berührt. Ihr Familienleben gehört nicht dazu. So wird der erste Ehemann Pierre (Roger van Hool) gar nicht erst erwähnt und Tochter Lumir (Juliette Binoche) eine glückliche Kindheit angedichtet, die freilich das Ergebnis der Hingabe ihrer Mutter ist.
Eine Lüge, die Lumir erst erfährt, als sie, um die Veröffentlichung zu feiern, ihrer Mutter einen Besuch abstattet. Wie viel Zerstörungskraft Fabiennes Narzissmus in sich trägt, offenbart der Film schon lange bevor die Autobiografie überhaupt das erste Mal aufgeschlagen wird. Lumir schreitet mit Ehemann Hank (Ethan Hawke) und Tochter Charlotte (Clémentine Grenier) im Schlepptau den großen Vorgarten des Anwesens ab, während Fabienne ein Interview gibt. Der Mutter ist es wichtiger, das Desinteresse über die Rivalinnen ihrer Zeit kundzutun, als ihre Tochter und deren Familie an der Tür zu empfangen. Ein Spannungsverhältnis, das Regisseur Hirokazu Kore-eda nicht in die Eskalation führt, sondern zunächst einmal übergeht. „La Vérité“ sucht stets einen Weg in die Versöhnlichkeit. Auf dem Papier kein leichter Weg, denn Fabiennes Narzissmus und der nie ganz verarbeitete Tod ihrer Schwester schweben bedrohlich über allen Zusammenkünften der Familie.
Die Intimität drückt die Liebe aus
Kore-eda erzählt das Familiengeflecht nicht als linearen Weg vom Zerwürfnis hin zur harmonischen Einigkeit. Vielmehr scheinen Lumir und Fabienne immer wieder in den Strudel ungelöster Familienkonflikte gezogen zu werden, nur um am nächsten Tag bei einem Witz oder der gemeinsamen Erinnerung an bessere Zeiten wieder zusammenzufinden. Die Subtexte, die Gefühle hinter den Kommentaren, die Schwächen und Versäumnisse sind nie etwas Verborgenes für die anderen Familienmitglieder. Dafür kennt man sich eben doch zu gut. Die Intimität, die hinter diesem Verhältnis steht, drückt die Liebe aus, die, wie so vieles in einer Familie, nie direkt ausgesprochen wird. Selbst Assistent Luc, den Fabienne nach dessen Kündigung zurückgewinnen will, erkennt bereits beim ersten Satz einer Entschuldigungsrede, dass diese nicht von Fabienne, sondern aus der Feder von Lumir stammt. Das Ergebnis ist aber kein Zerwürfnis.
Mit dem für ihn nicht unbedingt untypischen Hang zur Sentimentalität unterstreicht Kore-eda, dass jede Geste der Versöhnung, sei sie noch so affektiert oder aufgesetzt, immer auch eine Aufrichtigkeit in sich trägt. Ein Konzept, gegen das Catherine Deneuve nach allen Kräften anspielt, wenn sie ihren Ex-Mann übergeht, dem trockenen Schwiegersohn Wein einschenkt oder die Vernachlässigung ihrer Tochter zur charakterbildenden Erziehungsmethode erklärt.
In Lüge und Kunst spiegelt sich das Leben
In der Lüge wie in der Kunst spiegelt sich in „La Vérité“ das Leben. Nicht allein im übertragenen Sinne, etwa wenn Fabienne mit dem cinephilen Pathos einer alten Diva das Kino als das eigentlich Poetische im Leben bezeichnet, sondern auch ganz buchstäblich: Die Tage, die Lumir und ihre Familie bei der Mutter verbringen, sind exakt der Zeitraum, auf den die Dreharbeiten für deren neuen Spielfilm fallen. So beobachtet Lumir am Filmset, wie Fabienne in dem Science-Fiction-Epos die Tochter einer nur alle sieben Jahre aus dem All (wo man nicht altert) zurückkehrenden Mutter spielt. Mit Tränen in den Augen beobachtet sie, wie die Kamera der jungen Hauptdarstellerin von einem Raum des Filmsets in den nächsten folgt. Lumir beobachtet ihr eigenes Leben.
Der Ansatz mag schemenhaft wirken, doch Kore-edas Film ist viel zu leichtfüßig und fließend, um diesen Eindruck zu erwecken. Besonders die Momente, die über den präzisen dramaturgischen Takt des Familiendramas hinausgehen, beleben „La Vérité“. Wenn die Enkelin allen ein Küsschen aufdrückt, bevor sie ins Bett geht. Wenn Hank im Hintergrund für sie Faxen macht, die die Kamera gerade so noch einfängt. Oder wenn der Set-Chauffeur, kaum sichtbar in der Unschärfe des Vordergrunds, ein stummes, genervtes Telefonat führt, dann aus dem Film verschwindet, um in einem späten Streitgespräch wieder aufzutauchen und dezent, höflich und subtil das Zünglein an der Waage zu spielen. Auch ohne seine Schlichtung, die zumindest diesen Streit vorerst beendet, scheint Kore-eda nie daran zu zweifeln, dass es etwas gibt, das die Familie im Innersten zusammenhält. So ist die letzte Liebesbekundung des Films nicht einfach nur eine Lüge, sondern eine wahre Lüge.