Becoming Animal
Filmessay | Schweiz/Großbritannien/Kanada 2019 | 82 Minuten
Regie: Emma Davie
Filmdaten
- Originaltitel
- BECOMING ANIMAL
- Produktionsland
- Schweiz/Großbritannien/Kanada
- Produktionsjahr
- 2019
- Produktionsfirma
- Maximage/Scottish Documentary Institute/Britdoc Foundation
- Regie
- Emma Davie · Peter Mettler
- Buch
- Peter Mettler · Emma Davie
- Kamera
- Peter Mettler
- Musik
- Frank Bretschneider
- Schnitt
- Emma Davie · Peter Mettler
- Länge
- 82 Minuten
- Kinostart
- 29.08.2019
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Filmessay
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Sensorische Entdeckungsreise in die Natur nach den Theorien des Kulturökologen David Abram. Sein Kommentar über die Vermittlung zwischen der Wahrnehmung von Menschen und Tieren reibt sich mit beeindruckenden Naturaufnahmen und geht oft faszinierende Verbindungen mit ihnen ein.
Ein äsender Elch, zwischen Baumstämmen und Gestrüpp kaum sichtbar, aber umso hörbarer: ein plätschernder Bach. Als der Elch aufsteht und sich zwischen ein paar Bäume bewegt, folgt ihm die Kamera, bis ein weiterer Elch ins Bild kommt. Kurz darauf geht der Erste aus dem Bild und die Kamera folgt dem Zweiten, der sich – nun in die Gegenrichtung – in Bewegung setzt. Der Elch äst, kommt mit frontalem „Blick“ zum Betrachter breitbeinig zum Stehen und pinkelt. So beginnt „Becoming Animal“.
„Warum sehen wir Tiere an?“ ist eine alte Frage. John Berger stellte sie 1980 in seinem gleichnamigen Essay. Mit der in den letzten Jahren vermehrt auftretenden Kritik am Anthropozentrismus wurde die Frage an die Tiere zurückgegeben. Nun hieß es: „Warum sehen uns Tiere an?“ Die schottische Dokumentarfilmerin Emma Davie und ihr kanadisch-schweizerischer Kollege Peter Mettler – er steht in „Becoming Animal“ auch hinter der Kamera – versuchen sich der Natur jenseits dieses blickökonomischen Dualismus anzunähern. Das Schauen ist nur ein Aspekt, es geht ums Hinhören, Mitschwingen, die Begrenzungen des Menschseins Aufgeben, kurz: um Immersion. Das Konzept erinnert unmittelbar an die Arbeiten des an der Harvard University ansässigen „Sensory Ethnography Lab“ – ein Labor, das die Grenzen des (ethnografischen) Dokumentarfilms durch körperlich-sensuelle und ästhetische Erfahrungen auszuweiten sucht.
Pädagogischer Ansatz mit dem Kulturökologen David Abram
Davie und Mettler verfolgen indes einen weniger filmexperimentellen als „pädagogisch“ gefärbten Ansatz – und anders als etwa Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel („Leviathan“) ist ihr Immersionsbegriff nicht an Überwältigung gekoppelt. Als eine Art Vermittler oder auch Kontaktmedium zu der – wie es in anthropozänkritischen Diskursen heißt – „mehr-als-menschlichen Welt“ fungiert in ihrem Film David Abram. „Becoming Animal“ ist neben einigem anderen auch eine Einführung in das Denken des US-amerikanischen Kulturökologen, Philosophen und Autors, der mit seinem Buch „Im Bann der sinnlichen Natur“ Kultstatus in der Ökologiebewegung erlangte. Seine bisher nur auf Englisch vorliegende Veröffentlichung „Becoming Animal. An Earthly Cosmology“ leiht dem Film seinen Titel.
Ausgangspunkt des Films ist der zunächst einfach klingende Wunsch, sich „vollständiger“ auf die Natur einzulassen. Doch hier beginnen schon die ersten Probleme, wie Emma Davie einräumt. Natur sei ein schwieriger Begriff, ein „tricky word“, da sie uns (den Menschen) von ihr (der Natur) abtrennt. Ebenso tricky, auch das ein Argument von „Becoming Animal“, ist die Technologie. Einerseits erlaubt sie ganz andere Einblicke in und Anblicke der Natur, wie zum Beispiel der extreme Close-Up einer Schnecke zeigt, die langsam ihre Fühler ausstreckt, oder die aus der Rabenperspektive gefilmten Luftaufnahmen. Andererseits hat die Faszination für die Technologie den Zugang zur körperlich-sensuellen Welt überhaupt erst verstellt. Die ökologische Krise, so eine der Prämissen des Films, ist auch eine Krise der Wahrnehmung.
Filmemacher im „artenübergreifenden“ Beziehungsgeflecht
„Becoming Animal“ versucht mit der Diversität seiner mehr-als-menschlichen Perspektiven die eigene Wahrnehmung zu sensibilisieren und zu öffnen. Gleichzeitig ist die Natur im Film (gedreht wurde in Nationalparks in den USA und Kanada und in einem Schweizer Wald) stets als medial vermittelte markiert – etwa wenn Filmemacher und Technik mitten in der Landschaft herumstehen und unweigerlich zum Teil des „artenübergreifenden“ Beziehungsgeflechts werden. Mitunter wirkt das Filmbild sogar regelrecht animistisch: etwa wenn Aufnahmen eines Waldes aus dem fahrenden Auto heraus die Form eines geisterhaften Flickerfilms annehmen oder wenn sich das Bild durch die schlechten Lichtverhältnisse bei Nacht in pulsierende Pixel verwandelt.
Streckenweise verliert sich die Perspektive der Filmemacher und „Becoming Animal“ verengt sich zu einer Art Beweisführung von Abrams Thesen. Der Theoretiker okkupiert den Film regelrecht, mit seiner Off-Stimme dominiert er die Erzählung über weite Strecken – aber auch in Mettlers Ausführungen kommt mitunter ein leicht predigender Tonfall durch. Umso interessanter sind die Momente, in denen Abrams selbst auf anthropozentrische Zuschreibungen zurückfällt. In einer der schönsten Szenen des Films tappt das Dreiergespann durch den nächtlichen Grand-Teton-Nationalpark. Taschenlampen werfen schmale Lichtkegel in den dunklen Wald und illuminieren hier und da schemenhaft ein wenig Gestrüpp. Man hört menschliche Schritte, ein undefinierbares Klackern und schließlich sehr merkwürdige, flötenähnliche Laute.
Ehrfurcht vor Elchen
Mit leiser, ehrfürchtiger Stimme erklärt Abram leicht überspannt: „Wir hören gerade einen der bewegendsten, traurigsten Klänge in dieser ganzen mehr-als-menschlichen Welt, den Klang röhrender männlicher Elche. Es ist ein Klang, der sich in Arpeggios immer höher und höher schwingt zu diesen hohen Obertönen und dann zu den Obertönen darüber ... es scheint wirklich den Kontext zu setzen für alle Musik, die wir Menschen machen, weil es sich zu den Höhen einer Art Ekstase aufschwingt.“ Seine Rede klingt eher nach der Beschreibung neuer Musik.