Satanstango

Drama | Ungarn/Deutschland/Schweiz 1991-93 | 450 Minuten

Regie: Béla Tarr

Eine Gruppe verzweifelter, in ihrer Lebensangst erstarrter Menschen verläßt den heruntergekommenen Ort ihres bisherigen Daseins, um den Versprechungen eines charismatischen Mannes zu folgen, der sich jedoch als falscher Prophet erweist. Eine ungeheure ästhetische Entdeckungs- und Wahrnehmungsreise, die sich aus ständig wechselnden Perspektiven zu einer magisch-meditativen, visionären Parabel über den Niedergang der Menschheit verdichtet. Das herausragende Werk, das in formaler Strenge ein bestürzendes Bild der Auflösung gesellschaftlicher und moralischer Ordnungen zeichnet, ist zugleich eine Meditation über Zeit und Vergänglichkeit, Hoffnung und Untergang, die im Horizont von Schöpfung und Apokalypse eine metaphysische Dimension erreicht. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
SATANTANGO
Produktionsland
Ungarn/Deutschland/Schweiz
Produktionsjahr
1991-93
Produktionsfirma
Mozgókép Társulás és Alapítvány/Von Vietinghoff Filmprod./Vega
Regie
Béla Tarr
Buch
Béla Tarr · László Krasznahorkai
Kamera
Gábor Medvigy
Musik
Mihály Vig
Schnitt
Ágnes Hranitzky
Darsteller
Mihály Vig (Irimiás) · Putyi Horváth (Petrina) · Erika Bók (Estike) · Peter Berling (Doktor) · Miklós B. Székely (Futaki)
Länge
450 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
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Diskussion
Etwas ist aus den Fugen geraten, die Zeit scheint stehengeblieben, während Auflösung und Verfall in dem gottverlassenen Gut irgendwo in der Wüstenei der herbstlichen ungarischen Tiefebene voranschreiten. Nachdem die Bewirtschaftung eingestellt worden ist, sind die meisten Bewohner abgewandert. Geblieben sind nur drei kinderlose Ehepaare, drei Junggesellen - der Maschinist Futaki, der ehemalige Schuldirektor und der dem Trunk ergebene Doktor (eindrucksvoll: Peter Berlin) - und die Witwe Horgos mit ihren Kindern. Und ausgeharrt hat bislang auch noch der Wirt. Wie über seine triste Gaststube, wo allmählich ein Heer von sich heimtückisch verborgen haltenden Spinnen die Oberhand gewinnt, so scheint über die ganze Siedlung ein unsichtbares, zähes Netz aus tiefer Lähmung gebreitet. Die meisten haben zwar irgendwelche hochfliegenden Träume von einem neuen Anfang, aber niemand von ihnen brachte bislang die Entschlossenheit auf, aus dem Wartestand tatsächlich aufzubrechen. Das ist die Ausgangssituation der 7 1/2 Stunden von Béla Tarrs kongenialer Nachschöpfung des gleichnamigen Romans seines Freundes László Krasznahorkai.

An jenem Tag nun, der die erste Hälfte des Films minuziös beschreibt, sorgt die Nachricht von der Rückkehr des Irimiás und seines Adlatus Petrina für Unruhe. Alle wissen: wenn irgend jemand, dann hat er die Kraft, sie aus ihrem Elendsdasein herauszuführen. In die Hoffnung mischen sich allerdings starke Ängste, denn alle wissen ebenso, daß er ebenso fähig wäre, sie um ihr letztes Geld zu betrügen. Die Spannung des Wartens entlädt sich in einem verzweifelt-infernalischen Wirtshausgelage. An diesem Tag und in dieser "unheiligen Nacht", da Irimiás wieder in das Leben der Verlorenen treten soll, warten die älteren Horgos-Töchter in den leeren Speichern des Gehöfts vergeblich auf Freier. Ihre jüngere Schwester Estike aber, die ihr Bruder unter perfider Ausnutzung ihrer kindlichen Gutgläubigkeit um ihre kümmerlichen Ersparnisse gebracht hat, vergiftet währenddessen erst ihre Katze und dann sich selbst mit Rattengift - in der festen Überzeugung, nun bald bei den Engeln zu sein.

Das dumpfe Schuldbewußtsein der desolaten Gemeinde nutzt der redegewandte Irimiás dann für seine Zwecke, indem er den Tod Estikes zu einem Mahnzeichen für das "Verhängnis", das über der Siedlung liege, stilisiert. Dagegen stellt er die Vision einer neuen Musterwirtschaft, einer "Insel der Arbeit, der Sicherheit und des Friedens", die auf einem anderen brachliegenden Gut verwirklicht werden könne, wäre man nur bereit, um des "gemeinsamen Glücks" willen alles aufzugeben. Die Ehepaare, Futaki und der Schuldirektor können dieser Verlockung nicht widerstehen: zur treuhänderischen Verwaltung erhält Irimiás ihr gesamtes Geld, und wenige Stunden später sind sie bereits unterwegs. Mitgenommen haben sie nur das Nötigste, den Rest ihrer kärglichen Habseligkeiten haben sie zerschlagen. Doch dieser neue Exodus scheitert: Der Gutshof, in dem sie nach einem mehrstündigen Fußmarsch anlangen, entpuppt sich als noch weit verrotteter als der alte. In der verwaisten Siedlung meint der Doktor inzwischen feststellen zu können, daß alles "wie vorher in regloser Untätigkeit" verharrt. Angesichts dessen vernagelt er, der nun arbeitslos gewordene Chronist, sein Fenster zur Außenwelt und beginnt, die Handlung des Filmanfangs mit genau denselben Worten zu notieren, mit denen die Erzählerstimme den Zuschauer anfangs in das Geschehen eingeführt hat: Hat vielleicht alles nur im Kopf des Doktors stattgefunden?

"Satanstango" ist eine ästhetische Entdeckungsreise bzw. - mit Akzent auf dem ursprünglichen Wortsinn von "aisthesis" -eine Wahrnehmungsreise. Der Film erzählt, wie schon der Roman, seine Geschichte in mehreren Anläufen und aus jeweils wechselnden Perspektiven. Die einzelnen der zeitlich parallelen, nacheinander geschalteten Stränge überschneiden sich verschiedentlich dergestalt, daß (zeitlich versetzt) ein und dasselbe Ereignis aus unterschiedlichen Wahrnehmungspositionen gezeigt wird. Der Erzählgestus und die bestechende, gleichermaßen nüchtern-präzise wie suggestive Kamera-Arbeit Gábor Medvigys folgen grundsätzlich dem Pfad des realistischen Kinos, sind aber durchsetzt mit deutlich stilisierenden Momenten und surreal-traumspielartigen Szenen. Was "Satanstango" seine unverwechselbare Aura und besondere Kraft verleiht, ist sein Umgang mit der Zeit, sein besonderer Rhythmus von Kontinuität und Diskontinuität: in minutenlangen statischen Einstellungen, bei denen die Bilder wiederholt zum Standbild zu gefrieren scheinen, und in extrem verlangsamten Kamerafahrten im Ereignislosen kommt die Zeit bisweilen förmlich zum Stillstand, so daß ihre Quantifizierung, von der dann gelegentlich noch einsam tickende Wanduhren künden, sinnlos, ja lächerlich erscheint. Dann schaffen plötzlich wieder Zeitsprünge, Szenen- und Perspektivenwechsel Dynamik. "Satanstango" wird so zu einer Meditation der Zeit und zur ästhetischen Reflexion über die Wahrheit des Kamerablicks auf die äußere Wirklichkeit. Indem und wie Tarr allem seine Zeit gibt und gerade auch Dauer, Monotonie und Wiederholung bis jenseits der vermeintlichen "Schmerzgrenze" zuläßt, definiert er nicht nur die filmische Zeit neu. Vielmehr gelingt es ihm auch, einen als Zuschauer in seine Zeit hineinzunehmen, so daß der zunächst unendlich lang und langsam erscheinende Film am Ende kürzer als mancher mißlungene Actionfilm wirkt.

Krasznahorkais Roman war schon zum Zeitpunkt seiner Erstveröffentlichung vor knapp zehn Jahren mehr als nur ein visionäres "Nachwort zu Lebzeiten" auf den real existierenden Sozialismus in Ungarn. Im Miniaturbild schrieb er ein Sozio- und Psychogramm des Niedergangs und der ökonomischen und moralischen Auflösung, das für den gesamten "Kontinent" Gültigkeit besitzt, der (nicht erst) seit dem Fall des "eisernen Vorhangs" in einem schier bodenlosen Sumpf von Problemen versinkt. Dementsprechend ist auch die Verfilmung eine Phänomenologie des Desasters, eine Erkundung seiner äußeren und inneren Zustände, deren Folgen und der in ihnen auffindbaren Ursachen. Ganz vorne unter den vielen Symptomen, die Tarr zu einem komplexen Krankheitsbild versammelt, rangiert zweifelsohne die Lethargie. Die zuvor vom System produzierte Lähmung von Eigeninitiative und kreativem Handeln ist nach innen durchgekrochen und lastet bleiern auf den Seelen. Die zurückgestaute Lebensenergie kann sich in Rausch und Gewalt Bahn brechen, oder - wie es der nächtliche Wirtshaus-Tango emblematisch verdichtet - in einem orgiastischen "carpe-diem"-Taumel am Rande des Abgrunds, der an die Pestzeiten erinnert, an jene verzweifelten Exzesse im Angesicht des Untergangs, an die Totentänze der noch Lebenden. Vorherrschend aber ist ein dumpfes Herumlungern, das apathisch zusehen läßt, wie alles in Trümmer geht und allmählich auch die Herzen veröden läßt.

In der beklemmenden Geschichte Estikes ruft Tarr explizit die Dimension des Glaubens in das Geschehen. Außer im Glauben des Kindes hat aber in "Satanstango" das Christentum völlig abgewirtschaftet, zumindest an der Außenseite der Handlung. Die Kirchen sind verfallen, und die verhärmte Frau Halics, die es als einzige noch mit der Bibel hält, wirkt bigott und sektiererisch. Sie wird nur verspottet, ja mit Obszönitäten bedacht, als sie nahelegt, im letzten Buch der Schrift, der Apokalypse, zu lesen. Damit hat sie aber doch die richtige Losung für die Endzeitstimmung und zugleich das Stichwort für die Weitung des gedanklichen Horizonts über den "Osten" hinaus gegeben. Denn "Satanstango" ist auch eine apokalyptische Parabel über den Niedergang der Menschheit als solche. Bald, so scheint es, werden die unermüdlichen Spinnen endgültig die Herrschaft übernehmen und die Menschen aus der Mitte der Schöpfung in die Bedeutungslosigkeit zurückfallen. Alles ist durchweht vom pessimistischen Hauch der Philosophie des Absurden. Aber die heroische Revolte, die die Mentoren dieses Denkens einst noch gekannt haben, findet nicht mehr statt. Tarrs Blick in die "Abgründe der Seele" offenbart nur Resignation, Leere und Bosheit. Das Gute und die Liebe zeigen sich nirgendwo, sind nur ferne Erinnerung oder unerfüllbare Sehnsucht, an der man verzweifelt.

Bereits der Titel "Satanstango", der den Taumel der Menschheit in den Abgrund unter das Vorzeichen der Herrschaft des Bösen stellt, weist auf eine theologische Tiefenstruktur. In deren Zentrum steht der nicht zufällig wiederholt als "Erlöser" titulierte Irimiás. Da sein Name nach Auskunft des Autors auf den alt-testamentlichen Propheten Jeremias Bezug nimmt, nimmt es nicht wunder, daß etliche der die Zeit und Botschaft dieses Propheten kennzeichnenden Momente in "Satanstango" wiederkehren, wenngleich oft ins Negativ gespiegelt. Die Umkehrungen beginnen mit dem Namen Irimiás: der ihn trägt, führt ihn zu Unrecht. Er ist einer jener Falschpropheten, von denen der wahre Prophet sagte: "Die Propheten weissagen Lüge..., aber mein Volk liebt es so" (Jer 5, 31), die rufen "Heil, Heil. Aber kein Heil ist da" (6, 14). Wo Jeremias radikale Umkehr fordert, mit dem Exil droht und dafür von den Mächtigen des Landes verfolgt wird, da blendet der mephistotelische Irimiás mit "verführerischer Rede" (23, 32), da verheißt er ein neues "Gelobtes Land" und paktiert selbst mit der Geheimpolizei. Irimiás ist eine jener falschen Messiasgestalten, wie sie Jesus in seiner großen Endzeitrede (Mt 24, 24 f) verheißen hat. Sicher nicht zufällig hat Tarr für diesen charismatischen Anti-Christus einen Darsteller gewählt, der mit seinen sanften Zügen, seinem langen Haar und weichen Bart gut für die Hauptrolle in einem Jesus-Film geeignet wäre, nachdem schon Krasznahorkai die Pseudo-Christusförmigkeit durch die Beiordnung der exemplarischen Jüngerfigur Petrina/Petrus unterstrichen hat. Die Ankunft dieses falschen Erlösers bildet strukturell die Achse der gesamten Handlung, wie die Kapitelzählung, die von diesem Zeitpunkt ab rückwärts läuft, deutlich markiert. (Das letzte Film-Kapitel, das wieder die Nummer "I" trägt, ist überschrieben mit "Der Kreis schließt sich".) Der Charakter von "Satanstango" als Parabel der Menschheitsgeschichte und die Christuszüge ihres dunklen Helden lassen diese Struktur auch so lesen: Irimiás besitzt jene Position der Achse der Geschichte, die nach einem bekannten Gedanken von Teilhard de Chardin Christus einnimmt. Damit erweitert sich das Untergangsszenario schließlich zu einer Gegen-Lektüre der Heilsgeschichte: Nach dem Kommen des falschen Christus schreitet die Geschichte nicht mehr voran, sondern kippt nach hinten um und langt schließlich wieder beim Anfang der Schöpfung, in der Finsternis, an.

All das Dunkle weckt natürlich die Sehnsucht nach dem Lichten. Tarrs Film spendet keinen oberflächlichen Trost, sondern gibt die Frage, ob bei all dem noch ein Funke Hoffnung bleibt, an den Zuschauer weiter. Besinnt sich dieser auf die Botschaft des alttestamentlichen Jeremias, dann fände er dort wiederholt den Zuspruch, daß trotz der Vernichtung gerade noch ein neuer Anfang möglich ist. Das große Paradigma für den Untergang und Neubeginn ist die Sintflutgeschichte. Und ruft nicht der Dauerregen in "Satanstango" gerade diese Erzählung in Erinnerung? Für Jeremias genügte der Regen als Zeichen dafür, daß Gott sich kundtut (Jer 10,13). In "Satanstango" scheint sich der vergessene Gott deutlicher zu Gehör bringen zu müssen - wenigstens einigen "Auserwählten" gegenüber: in den Glockenschlägen, die zu Beginn und am Ende des Films das Firmament tief durchklingen, in einem "dröhnenden Himmelsgeläut", wie es der Doktor nennt. Am Ende, als die über Stunden regenverhangene Leinwand schließlich ganz ins Schwarz versunken ist, hört dieses "Himmelsgeläut" nicht auf - es wird stärker und stärker.
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