Jibril
Drama | Deutschland 2018 | 83 Minuten
Regie: Henrika Kull
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2018
- Produktionsfirma
- Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf
- Regie
- Henrika Kull
- Buch
- Henrika Kull
- Kamera
- Carolina Steinbrecher
- Musik
- Dascha Dauenhauer
- Schnitt
- Henrika Kull
- Darsteller
- Susana Abdulmajid (Maryam) · Malik Adan (Gabriel) · Doua Rahal (Sus) · Emna El-Aouni (Emna El-Aouni) · Gina Schulte am Hülse (Maggi)
- Länge
- 83 Minuten
- Kinostart
- 09.05.2019
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Drama | Liebesfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Intensives Spielfilmdebüt über eine irakischstämmige Alleinerziehende, die sich in einen Mann im Gefängnis verliebt. Aus dem Motiv der Einschränkungen erwächst ein nuanciertes Wechselspiel von Offenheit und Geschlossenheit.
Eine junge Frau tanzt allein auf einer Hochzeit, ihr offenes Haar glänzt im Licht der Scheinwerfer. Der Raum von Freiheit und Ausgelassenheit, den die Tanzfläche zu bieten scheint, verschließt sich jedoch mit jeder weiteren Kameraeinstellung – auf die traditionellen arabischen Rituale, die verschleierte Braut, die Dominanz der männlichen Körper. Immer mehr wird die selbstbewusst Tanzende zu einem Fremdkörper, der die sie umgebenden Reglementierungen herauszufordern scheint – und gleichzeitig mit ihnen kokettiert. Ihre einladenden Blicke gelten den Männern, die sie unentschlossen aus der Distanz betrachten.
Mit dieser Anfangssequenz wirft die Regisseurin Henrika Kull mitten ins Leben der dreifachen Mutter Maryam (Susana Abdulmajid), die als Alleinerziehende in Berlin ihren Alltag voller Energie und Entschlossenheit meistert. Als Irakerin der zweiten Generation in Deutschland bewegt sie sich mühelos zwischen den Sprachen und Kulturen und lebt auch mit den damit verbundenen inneren Widersprüchen. Selbstbewusst mahnt sie ihre drei kleinen Töchter, für den getrennt lebenden Vater unter keinen Umständen zu putzen, und auch gegen hartnäckige Verehrer weiß sich Maryam durchaus zur Wehr zu setzen.
Dennoch versinkt sie Nacht für Nacht nach einem harten Arbeitstag vor einer arabischen Telenovela, die in stereotypen Rollenbildern ausschließlich von der Suche nach einem Mann zum Heiraten handelt. Als sie anstelle einer Freundin ein Paket für deren Bruder ins Gefängnis bringen soll, entpuppt sich dieser als der charismatische junge Mann, der ihr bereits auf der Hochzeitsfeier ins Auge gefallen war. Das Zusammentreffen mit Jibril (Malik Adan), der eigentlich Gabriel heißt, wird zu einem „coup de foudre“, der in beiden eine tiefe Sehnsucht nach Nähe weckt. Im Taumel der Gefühle lässt sich Maryam auf ihre romantischen Fantasien ein, wohlwissend, dass die Inhaftierung ihres Geliebten noch lange währen wird.
Intensität durch Abwesenheit
Auch über den muslimischen Kontext hinaus berührt der Debütfilm von Henrika Kull eine ganz ähnliche Frage wie Ruth Beckermanns szenische Lesung „Die Geträumten“: Wie viel projektive Fantasie steckt in Distanzbeziehungen, aber vielleicht auch in jedem erotischen Begehren? Befeuert ausgerechnet die Abwesenheit des Anderen eine Intensität, die gar nicht haltbar wäre, wenn man sie in eine Partnerschaft überführt?
Gabriel, dessen alttestamentarischer Name „göttlicher Held“ bedeutet, wird für Maryam zu einem Ideal, das die Wirklichkeit nicht mehr einholen kann. Jeder Anruf, jede kleine Berührung im Besucherraum ist so aufgeladen mit Bedeutung, dass die Banalität der alltäglichen Zweisamkeit unvermeidlich wird. Nicht umsonst zögert Maryam lange eine Verbindlichkeit der Beziehung hinaus. In einer der schönsten Einstellungen des Films lehnt sie ihren Körper in sinnlicher Ekstase zurück, während sie sich an den Gittern des Gefängnisses festhält. Ein wunderbar treffendes Bild, denn es ist gerade die Unerreichbarkeit, die ihr auf scheinbar paradoxe Weise die Hingabe erlaubt.
Bereits in ihrem dokumentarischen Kurzfilm „Absently Present“ hatte Kull die Beziehung einer Frau zu einem Inhaftierten porträtiert und dabei die unterschiedlichen Motive von beiden Seiten untersucht, die ein solches Verhältnis antreiben, aber auch herausfordern. Dass gerade die Abwesenheit ein so starkes Gefühl von Nähe erzeugt, gründet in einer uneingestandenen Angst vor Intimität, die in einer Situation wie der von Maryam aber durchaus auch eine Form der Freiheit und Rebellion ermöglichen kann. Für ihre konservative Mutter ist Gabriel nur ein Nichtsnutz, der sich nicht ins patriarchale Modell einfügen will: Er kann nicht für Maryam und ihre Kinder sorgen, er genügt nicht den Vorstellungen eines ehrbaren Mannes – und ist vielleicht aber gerade dadurch für Maryam so interessant.
In einer Welt der kalkulierten Eheschließungen, sei es aus finanziellen Gründen wie bei ihrer Freundin oder aufgrund von Beschlüssen der Familie, wirkt Maryams romantische Fantasie auch als emanzipatorischer Bruch mit einem überkommenen Gesellschaftsmodell. Die punktuell eingesetzte Filmmusik macht dies auf lebhafte Weise erfahrbar. Denn der wiederkehrende Song, den Maryam so begeistert hört, zeugt nicht nur von der Sehnsucht nach einem Mann, sondern vor allem vom Genuss eines eigenen Raums, den diese platonische Beziehung in der erdrückenden Beengung durch Sitten und Traditionen erst möglich macht.
Die Sehnsucht nach dem Dazwischen
Was dabei ins Auge fällt, ist das Wechselspiel von Offenheit und Geschlossenheit der Räume, das Kull sehr nuanciert in Szene setzt, um die Bewegung zu fokussieren, die für beide Protagonisten zum eigentlichen Motor des Begehrens wird. Als Mann genießt Gabriel mehr gesellschaftliche Bewegungsfreiheit als Maryam; seine Inhaftierung bringt ihn in eine Position, die ihn verletzlich und schwach wirken lässt. Liebe wird für ihn zur Prüfung, inwieweit er in der Lage ist, seine eigene Ohnmacht auszuhalten, während die Frau, die scheinbar auf ihn wartet, sehr viel mehr Spielraum besitzt, sich zu nähern oder sich wieder zu entfernen.
Die Enge von Maryams Berliner Wohnung scheint sich im Laufe ihrer Beziehung hingegen immer mehr dem Himmel zu öffnen, einem Zustand des in der Schwebe Haltens, wie Vögel im Wind oder die vorbeifliegende Landschaft im Auto. In solchen Momenten sucht der Film nach einem Zwischenraum, der die erstarrten Geschlechterrollen in Bewegung bringt und eine Erfahrung mit der eigenen Sexualität ermöglicht, ohne diese sofort wieder einem normativen Modell zu unterwerfen.