Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein

Coming-of-Age-Film | Österreich/Deutschland 2019 | 146 Minuten

Regie: Rupert Henning

Der Sohn eines österreichischen Fabrik-Besitzers leidet in den 1950er-Jahren unter seinem tyrannischen Vater, auf einem Jesuiten-Gymnasium ergeht es ihm nicht besser. Der Geist der Gewalt setzt jedoch auch eine Kreativität frei, die dem Jungen zu überleben hilft und ihm den Weg zu seiner Berufung eines Varietékünstlers ebnet. Verfilmung der Kindheitserinnerungen des Multitalents André Heller als saftige Groteske, in der die Figuren ebenso theatralisch verzerrt sind wie die Kameraperspektiven. Dass sie dadurch ebenso furchteinflößend wie lächerlich erscheinen, unterstreicht die filmische Botschaft, mit der Phantasie aus Not- und Schreckenssituationen zu entfliehen. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Österreich/Deutschland
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Dor Film/ORF/SR/arte
Regie
Rupert Henning
Buch
Uli Brée · Rupert Henning
Kamera
Josef Mittendorfer
Musik
Kyrre Kvam
Schnitt
Alarich Lenz
Darsteller
Karl Markovics (Roman Silberstein) · Sabine Timoteo (Emma Silberstein) · Valentin Hagg (Paul Silberstein) · André Wilms (Onkel Louis) · Udo Samel (Tibor Silberstein)
Länge
146 Minuten
Kinostart
25.04.2019
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Coming-of-Age-Film | Drama | Familienfilm | Literaturverfilmung
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
EuroVideo & Hoanzl (16:9, 2.35:1, DD5.1 dt.)
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Verfilmung der Kindheitserinnerungen von André Heller über die Schrecken eines tyrannischen Vaters und einer strengen Jesuiten-Schulzeit als saftige Groteske, in der die Phantasie den Sieg über die Schrecken davonträgt.

Diskussion

Die Eröffnungsszene des Films besitzt Schockpotenzial. Familie Silberstein, Besitzerin einer berühmten Wiener Süßwarenfabrik, befindet sich in der Sommerfrische am malerischen Wolfgangsee. Eigentlich sollte sie bester Laune sein. Aber die Schönheit der Natur wird sogleich mit der Hässlichkeit ihres Zusammenlebens kontrastiert. Da rennt unvermittelt die Mutter über den hölzernen Steg und stürzt sich in selbstmörderischer Absicht ins Wasser. Ihr Ehemann denkt nicht im Traum daran, seine Frau zu retten. Stattdessen drischt er mit dem Ruderblatt auf sie ein, um sie nach unten in die Tiefe zu drücken. Ungläubig wohnen die zwei Söhne dieser bösartigen Tat bei und eilen der schreienden Mutter zu Hilfe. Und der Vater setzt noch eins drauf. Nachdem er seinen Sohn Paul, der nicht schwimmen kann, aus dem Wasser gefischt hat, wirft er ihn erneut in die Fluten. Denn bevor das Kind im Trockenen sitzen darf, soll es das Schwimmen lernen.

Beim Erscheinen von André Hellers Kindheitserinnerungen (2008), in denen laut Vorbemerkung des Autors die Phantasie die „Oberhand beim Schreiben“ behielt, wurde seinerzeit moniert, dass das österreichische Multitalent darin keine Verbindung zwischen dem Kind, kindlicher Imaginationskraft und dem Künstler herstelle. Rupert Hennings Film ist es nun geglückt, diese Beziehung zu knüpfen und plastisch zu machen. Er erfindet hinzu, wie aus dem Geist der Gewalt und der Liebe der Varietékünstler Paul Silberstein alias André Heller im zarten Alter von 12 Jahren zum ersten Mal selbstbewusst in das Licht eines Scheinwerfers tritt. Er rückt den Vater mehr in den Mittelpunkt und stellt die von ihm beherrschte Szene an den Anfang. Er deutet sie als Ursprung, von dem aus der Werdegang des jungen Künstlers zu begreifen ist, obgleich Paul das Geschehen scheinbar immer mit Distanz wahrnimmt.

Der Vater ist unberechenbar und sadistisch

Vater Silberstein ist ein Tyrann. Der österreichische Kommerzialrat, römischer Commendatore und ehemaliger Verbindungsoffizier von De Gaulles Exilregierung, ist eitel, arrogant, unberechenbar und sadistisch, er sucht die Aufmerksamkeit seiner Umgebung und setzt sich immer wieder lautstark in Szene. Selbst als Papst Pius dahingeschieden ist, kann er sich nicht pietätvoll zurückhalten. Seine Zeit verbringt er zumeist zuhause in seiner Bibliothek, versteckt seine Krampfadern unter Deckweiß und tröstet sich mit Opium und den verblassenden Bildern einer vergangenen Liebschaft. Sohn Paul indes muss sich mit den Repressalien eines Jesuiten-Gymnasiums auseinandersetzen, in das er gegen seinen Willen abgeschoben wurde. Die Patres setzen die väterliche Gewalt fort, sie sollen dem Kind den Katholizismus einbläuen.

Während der Ich-Erzähler im Buch trocken und kontrolliert von den Verschrobenheiten der Charaktere berichtet, steigert der Film die übermächtigen Vaterfiguren ins Theatralisch-Künstliche, Überspannte hinein und nutzt dafür ausgiebig verzerrte Kameraperspektiven. Die groteske Überzeichnung lässt ihr Gebaren furchtbar und lächerlich zugleich erscheinen, am Ende jedoch wird der Sohn von all diesen Autoritäten befreit sein.

Der Regisseur hat eine Riege vorzüglicher Schauspieler und Schauspielerinnen versammelt. Karl Markovics findet sichtlich Gefallen an der Rolle des Vaters. Mit Sabine Timoteo steht ihm eine ebenbürtige Partnerin zur Seite, deren Figur ihm mit ihrem exzentrisch-herablassenden Verhalten und der lieblosen Behandlung des Sohnes in nichts nachsteht.

Die Handlungsstränge werden parallel erzählt

Henning hat den Aufbau von Hellers zweiteiligem Buch gesprengt; er dramatisiert das Geschehen, indem er die Handlung im Internat und das Leben der Eltern parallel montiert. Das führt zwar zu einem Verlust der Klarheit und Stringenz der Vorlage. Aber es werden so auch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in beider Leben, das väterliche Erbe wie dessen Ausschlagung, deutlicher. Denn es ist der Vater, der seinem Sohn das Tagebuchschreiben als Buße auferlegt. Eine Strafe, die der Sohn für sich kreativ wendet, woraus dann der Quell seiner Erfindungsgabe fließen wird.

Vater wie Sohn flüchten sich aus der Gegenwart in ihre Träume. Ist es beim Vater die verflossene Geliebte, eine Akrobatin, himmelt der Sohn das Mädchen Leonore an, das gegenüber dem Internat auf einem Pferd trabt. Als er endlich zu ihr gelangen kann, liegt die Angebetete auf dem Krankenbett. Sogleich phantasiert er ihr und dem Publikum eine magische Zirkusvorstellung herbei. Denn hier gilt: Es ist die Kunst, die zu heilen vermag.

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