Chris the Swiss
Animation | Schweiz 2018 | 90 Minuten
Regie: Anja Kofmel
Filmdaten
- Originaltitel
- CHRIS THE SWISS
- Produktionsland
- Schweiz
- Produktionsjahr
- 2018
- Produktionsfirma
- Dschoint Ventschr Filmprod./Ma.Ja.De Filmprod./Nukleus Film
- Regie
- Anja Kofmel
- Buch
- Anja Kofmel
- Kamera
- Guy Faessler
- Musik
- Marcel Vaid · André Bellmont
- Schnitt
- Stefan Kälin
- Länge
- 90 Minuten
- Kinostart
- 31.01.2019
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Animation | Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Die Schweizer Filmemacherin Anja Kofmel will die Motive hinter dem Tod ihres Cousins enträtseln, der 1991 im jugoslawischen Bürgerkrieg ermordet wurde. Dabei fördert sie Dinge zu Tage, die ihre Empathie in Frage stellen und zeitgenössische Urteile erschüttern.
Am 6. Oktober 1991 stieg der 27-jährige Schweizer Christian Würtenberg in einen Zug, der ihn aus seiner Heimat direkt ins jugoslawische Kriegsgebiet führte. Als Journalist wollte er von den Ungeheuerlichkeiten berichten, die direkt vor seiner Tür stattfanden. Drei Monate später fand man seine Leiche in der Nähe von Osjek, ein paar Kilometer hinter der Front. Würtenberg war erwürgt worden. Von den Mördern fehlte jede Spur.
Seine Cousine Anja Kofmel war damals zehn Jahre alt. Als junges Mädchen erfuhr sie, welch tiefe und bleibende Wunden der Tod von Chris ihrer Familie beibrachte. 2008 porträtierte sie ihn, der für sie wie eine Art verlorener großer Bruder war, in ihrem animierten Kurzfilm „Chrigi“. Die Trauerarbeit war damit aber noch nicht an ein Ende gekommen. In „Chris the Swiss“ nähert sie sich erneut dem Toten, diesmal in einer Mischform aus Dokumentar- und Animationsfilm.
Der Geruch von Abenteuer
In ihre Recherche-Reise an die damaligen Orte des Geschehens sind mitunter recht schockierende Archivaufnahmen sowie Interviews mit Familienmitgliedern und Zeitzeugen integriert, dazu Erinnerungen und Träume der Regisseurin, die zu eindrucksvollen grafischen Filmbildern verdichtet werden.
Chris bedeutete für das kleine Mädchen den Geruch von Abenteuer. In der Animation verwandelt sich der gebeugte Rücken des überlebensgroßen jungen Mannes in einen Ozean, auf dem vor den Augen des staunenden Kindes ein Dampfer entlangfährt. Immer wieder gibt es solche starken, in expressivem Schwarz-weiß gehaltene Metaphern: Das Mädchen, das mit einer Zeichnung für Chris durch einen Wald aus Maisstängeln irrt und den geliebten Cousin doch immer nur aus der Ferne sieht. Ein Schwarm schwarzer Flugzeuge, die sich als Untiere entpuppen und die Menschen jagen, sie schließlich in die Tiefe ziehen. Monströse Figuren, die aus der Erde wachsen und Chris in den Boden rammen. Ein Heer von Spinnen, das sich aus den Scheinwerfern eines Panzerfahrzeugs ergießt. Schließlich der einsame Schal, mit dem Chris erwürgt wurde, und der nun durch die Luft fliegt, bis er zu Boden sinkt und im trüben Wasser untergeht. In diesen animierten Sequenzen gewinnt der Film eine Dichte und Eindringlichkeit, die ihn auf eine Ebene mit den autobiografisch inspirierten Animadocs „Waltz with Bashir“ und „Persepolis“ hebt.
Ich will sehen, ich will hören, ich will verstehen
Erregend ist aber auch, was Kofmel über die letzten Monate ihres Cousins zutage fördert. Zunächst reihte sich Würtenberg in die Schar internationaler Kriegsberichter ein. Er erlebte, wie der Krieg immer schmutziger wurde und die Zivilbevölkerung bedrohte. Alte Nationalismen brachen wieder auf: der Ustascha-Faschismus in Kroatien wurde wieder salonfähig; die Tschetniks in Serbien unternahmen Mordfeldzüge. Der Film zitiert aus Würtenbergs Tagebuch: „Wer kämpft gegen wen? Warum? Wer leitet die Massaker?“ Und: „Ich will sehen, ich will hören, ich will verstehen.“
Um zu verstehen, folgte er dem Sog der Dunkelheit, heuerte bei einer paramilitärischen kroatischen Einheit an, dem „First International Platoon of Volunteers“. Eine von Kofmel interviewte Journalistin nennt die Truppe einen „Haufen rechtsextremistischer Krimineller, für die das Töten eine lustvolle Angelegenheit war, ein Haufen Hirnkranke“.
Der Film dokumentiert zugleich den Bewusstseinsprozess der Regisseurin: Aus dem bewunderten Cousin wird plötzlich eine zwiespältige Figur, womöglich sogar ein Mörder. Fragen drängen sich auf, die nicht beantwortet werden können. Fragen, die in einem fiktiven Dialog direkt an den Toten gestellt werden: Hast Du geglaubt, Du könntest das Abschlachten von Zivilisten aus nächster Nähe dokumentieren, ohne Teil des Ganzen zu sein? Fragen, die erst die Geschichte beantworten wird – wenn überhaupt: Welche Rolle spielte das „Opus Dei“ im Jugoslawienkrieg? Sollte der Balkankonflikt in einen Religionskrieg münden, in einen Vernichtungsfeldzug gegen die Orthodoxen, oder gegen den Islam? Kroatien als letzte Grenze des Christentums, die blutig zu verteidigen war – und sei es durch das Abschlachten von Zivilisten? Ist Chris also weit mehr als nur ein Vorname? Vielmehr ein Synonym für eine Partei im Weltenbrand?
Eine tiefe Verunsicherung
Auf diese Weise geht von „Chris the Swiss“ eine tiefe Verunsicherung aus, weit über die private Familiengeschichte hinaus. Das ist der Regisseurin zu danken, die den Mut und die Kraft fand, ihre zunächst sentimental grundierte Empathie aufzubrechen und sich dem Cousin gegenüber kritisch zu öffnen. Fast unerheblich ist, ob der 2009 verstorbene Söldner Eduardo, der ebenfalls in der von Kroatien alimentierten Truppe kämpfte, der Mörder von Chris war. Dass die Manuskripte des Schweizer Journalisten bis heute verschwunden sind, deutet darauf hin, wie brisant die jüngste Zeitgeschichte ist. Und wie aktuell: denn erneut ziehen fanatisierte junge Männer in den Krieg, wenngleich einige Hundert Kilometer weiter östlich.