Es ist nur ein kleines Tattoo auf der Hüfte des Leichnams, den die Pathologin Adriana vor sich auf dem Untersuchungstisch hat, doch der Anblick trifft sie bis ins Mark. Adriana kennt dieses Tattoo aufs Intimste: Sie hat mit seinem Besitzer vor kurzem eine Liebesnacht erlebt, die förmlich ihre Welt zum Beben brachte. Den wunderschönen Andrea, den sie so gerne wieder gesehen hätte, der aber zum vereinbarten Treffen nach dem One-Night-Stand nicht erschienen ist, in dem entstellten, grausam ermordeten Körper wiederzuerkennen, ist trotz der Kürze dieser Affäre ein schwerer Schlag: Die Hoffnung auf Liebe, die mit der schnell und heftig aufgeflackerten Leidenschaft verbunden war, scheint im Keim erstickt zu sein. Oder doch nicht? Nach der Bestattung ihres jungen Geliebten begegnet Adriana nachts in den Gassen von Neapel einem Mann, der dem ermordeten Andrea aufs Haar gleicht. Als sie ihn anspricht, will er sich zunächst entziehen, erklärt aber schließlich, der Zwillingsbruder des Toten zu sein, der von diesem früh getrennt wurde. Ist dieser rätselhafte Doppelgänger nun in Gefahr, weil diejenigen, die für die Ermordung Andreas verantwortlich sind, auch ihn im Visier haben könnten? Adriana lässt es sich nicht nehmen, ihn mit nach Hause in die Sicherheit ihrer Single-Wohnung zu nehmen und seine Existenz nach außen hin tunlichst zu verschweigen. Auch gegenüber der Polizei, die im Zuge der Mordermittlungen Kontakt zu Adriana aufgenommen hat, die Andrea als letzte lebendig gesehen hat. Je länger der Fremde bei Adriana wohnt, je intensiver das Verhältnis zwischen ihnen wird, das die schmerzlich beendete Liaison mit Andrea nahtlos fortsetzt, umso mehr wachsen Zweifel: Hat der Bruder vielleicht selbst etwas mit dem Mord zu tun? Und ist er wirklich der, der er zu sein behauptet – oder vielleicht Andrea selbst als geisterhafter Wiedergänger? Der italienisch-türkische Regisseur Ferzan Ozpetek hat ein Faible für Figuren im Limbo, in Zuständen des Dazwischen: zwischen unterschiedlichen Kulturen („Hamam“ (fd 33 395)), zwischen Vergangenheit und Zukunft („Nacht im Harem“, „Das Fenster gegenüber“ (fd 37 234)), zwischen unterschiedlichen Lebensmodellen („Saturno Contro“ (fd 38 285), „Männer al dente“ (fd 39 957)). In „Das Geheimnis von Neapel“ findet er dafür ein großartiges Ventil. Ähnlich wie in „Die Ahnungslosen“ (fd 35 213) und „Saturno Contro“ ist es ein Todesfall, der die Geschichte ins Rollen bringt und sozusagen eine Wand im Lebenshaus der Protagonistin einreißt, wodurch sie mit etwas Fremden konfrontiert wird und Gewissheiten in Frage gestellt sieht – was einerseits eine verletzende, beängstigende Erfahrung ist, zugleich aber auch ein Motor für Bewegung und Veränderung, die in Ozpeteks Filmen immer auch mit Chancen verbunden sind. In „Das Geheimnis von Neapel“, virtuos zwischen Liebesdrama, Psychothriller und Geistergeschichte balancierend, ist das nicht anders: Im Laufe der Ereignisse, die Adrianas geordnete Existenz aus der Bahn werfen, wird nicht nur das Rätsel um Andreas Tod umkreist, sondern kommen auch alte Verwundungen ans Licht, die Adriana schon lange mit sich rumschleppt und die wohl der Grund dafür sind, dass sie sich vor Andrea schwergetan hat, sich auf eine Liebe einzulassen. Ozpetek erzählt diese Geschichte als ebenso fesselndes wie vielschichtiges Mysterienspiel, in dem neben Adriana und Andrea die Stadt Neapel und Adrianas Umfeld eine zentrale Rolle spielen. In Ozpeteks Filmen sind die Figuren nie Monaden, sie sind soziale Wesen in vielfältigen Beziehungen, und auch in „Das Geheimnis von Neapel“ nimmt sich der Regisseur innerhalb der Genre-Geschichte um den Mord und die „Amour fou“ den Raum, eindrückliche Nebenfiguren und deren Schicksale (Adrianas Freunde und Familienmitglieder) und neapolitanisches Lokalkolorit einzuflechten. Wobei es weniger das reale Neapel ist, um das es ihm geht, sondern eher das mythische Schimmern der Stadt in der Nähe des Vesuvs: die Imago mediterraner Sinnlichkeit im Schatten des Todes. Auch hier ist es das Transgressive, das Fließen von Identitäten, das Ozpetek reizt: das Ineinander von Lebenslust und Morbidität, Männlichem und Weiblichem, von moderner Lebenswelt, christlich geprägter Kultur und heidnisch-archaischen Resten. Zusammengehalten wird diese opulente Noir-Barock-Phantasmagorie durch die hervorragende Hauptdarstellerin Giovanna Mezzogiorno und ihr intensives Porträt einer Frau, die sich wie einst Dante „grad in der Mitte ihres Lebenswegs“ zu verirren droht und sozusagen zwischen den Lebenden und den Toten, zwischen Himmel und Hölle nach neuer Orientierung, einem neuen Seins-Modus sucht. Die Frage, wer Andrea nun ermordet hat, ist letztlich zweitrangig – wichtig ist, wer Adriana am Ende sein wird.