Das Leben einer frustrierten Frau Anfang 30 ändert sich grundlegend, als ihr gutmütiger Mann einem verwirrten Alten Unterschlupf gewährt. Während sie sich in einen gegenüber wohnenden Nachbarn verliebt, lüftet sie das Geheimnis des Alten, der in eine lange zurückliegende homosexuelle Liebe mit tragischem Ausgang verstrickt ist. Zwei verschachtelt erzählte unglückliche Liebesgeschichten, die souverän Vergangenes mit Gegenwärtigem verbinden, wobei heikle Themen um Ehebruch, Homosexualität und Nationalsozialismus mit traumwandlerischer Sicherheit behandelt werden. Hervorragende Darsteller verhelfen dem traurig-schönen Film zu einer tiefen Poesie. (O.m.d.U.; Kinotipp der katholischen Filmkritik))
- Sehenswert ab 16.
Das Fenster gegenüber
- | Italien/Türkei/Großbritannien/Portugal 2003 | 106 Minuten
Regie: Ferzan Özpetek
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Filmdaten
- Originaltitel
- LA FINESTRA DI FRONTE
- Produktionsland
- Italien/Türkei/Großbritannien/Portugal
- Produktionsjahr
- 2003
- Produktionsfirma
- R & C Produzioni/AFS Film/Redwave Films/Clap Filmes
- Regie
- Ferzan Özpetek
- Buch
- Ferzan Özpetek · Gianni Romoli
- Kamera
- Gianfilippo Corticelli
- Musik
- Andrea Guerra
- Schnitt
- Patrizio Marone
- Darsteller
- Giovanna Mezzogiorno (Giovanna) · Raoul Bova (Lorenzo) · Massimo Girotti (Der alte Mann) · Filippo Nigro (Filippo, Giovannas Mann) · Serra Yilmaz (Eminè)
- Länge
- 106 Minuten
- Kinostart
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- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Ein gewöhnlicher Tag im Leben der Römerin Giovanna: Sie geht früh aus dem Haus, schuftet in der Buchhaltung einer Hühnerfabrik, kommt abends erschöpft nach Hause, lacht und schimpft mit ihren beiden Kindern, bringt sie ins Bett und verabschiedet schlecht gelaunt ihren Mann Filippo zur Nachtschicht. Anschließend zündet sie sich eine Zigarette an, stellt sich vors Fenster und schaut – ihr Gesicht im Schatten verborgen – hinaus, über den Hof zum Haus gegenüber und in die Wohnung ihres Nachbarn hinein. Die Fensterrahmen verwandeln sein Zimmer in eine Bühne. Giovanna ist Zuschauerin und Regisseurin in einem, montiert im Geiste Ausschnitte aus dem Alltag des Nachbarn zum romantischen Liebesfilm. Ungeduldig zieht sie am Filter ihrer Zigarette, als ließen sich all ihre Wünsche, Träume und Sehnsüchte dadurch erfüllen. Doch die Zigarette ist schnell abgeraucht; dann hält sie die Glut unter den offenen Wasserhahn und kehrt in ihre vier Wände zurück.
Anfang 30 ist sie jetzt und seit fast zehn Jahren mit Filippo verheiratet. Ihr Dasein hat sich schon lange verselbständigt, es geht seinen Gang und schleppt sie mit. Als Filippo auf der Straße einem verwirrten alten Mann seine Hilfe anbietet, will Giovanna davon zunächst nichts wissen. Doch der gutmütige Filippo kann den hilflosen Alten nicht einfach stehen lassen, doch der alte Mann hat offenkundig sein Gedächtnis verloren. Also kommt er vorläufig bei ihnen unter. Drei Tage dauert es, bis der anfangs schweigsame Alte seine Identität wiederfindet. Drei Tage, die Giovannas Leben auf den Kopf stellen. Als sie den merkwürdigen Gast, dem außer dem Namen „Simone“ kaum ein Wort zu entlocken war, am zweiten Abend aus den Augen verliert, ist es ausgerechnet ihr Nachbar Lorenzo, der ihr bei der Suche hilft. Gemeinsam finden sie den alten Herrn wieder und bringen ihn zurück. Spät nachts klingelt dann noch einmal Giovannas Telefon. Von Fenster zu Fenster unterhalten sich Nachbar und Nachbarin; einander nah und doch (noch) unerreichbar. Lorenzo erzählt, dass der alte Mann wie im Traum mit ihm geredet habe, von einer unsterblichen Liebe, die geheim bleiben müsse, weil die anderen sie nie verzeihen würden. Die Blicke hinter den Scheiben verraten, dass Lorenzo in diesem Moment Giovanna seine Liebe gesteht. Kunstvoll schlingt Regisseur Ferzan Özpetek („Hamam – Das türkische Bad“, fd 33395) Gegenwart und Vergangenheit ineinander. Zwei unglückliche Liebesgeschichten begegnen sich durch die Zeit: die eine als traumatisches Echo, die andere als Utopie. Nur ganz sporadisch, vor allem am Anfang und am Ende des Films, greift Özpetek dafür auf klassische Rückblenden zurück; meistens verwebt er Vergangenes mit Gegenwärtigem, indem er die Erinnerungsfragmente, die den alten Mann als Halluzinationen heimsuchen, in die Jetztzeit integriert. Gestalten der Vergangenheit durchwandeln wie Dämonen oder Engel die Straßen Roms und lassen ein bedrückendes, zugleich rauschhaft faszinierendes Gemälde einer aufgewühlten Psyche entstehen.
Ähnlich eindrucksvoll wie der Blick durch die Augen des mysteriösen Alten ist dessen Anblick selbst. Massimo Girotti, einer der großen Schauspieler des italienischen Kinos, verleiht in seiner letzten Filmrolle dem Unbekannten ein gespenstisch schillerndes Charisma. Zwischen Giovanna und ihrem seltsamen Gast entsteht eine tiefe Freundschaft, die sie sein Geheimnis entschlüsseln lässt. Sie entdeckt eine in seinen Unterarm eintätowierte Nummer und erfährt, dass seine heimliche Liebe ein anderer Mann war, ein Jude wie er. Sein Geliebter hieß Simone, er selbst heißt Davide. 1943 hatte es ihm das Schicksal ermöglicht, viele seiner jüdischen Leidensgenossen vor der Deportation zu retten, nur Simone nicht. Nach dem Krieg baute sich Davide als Konditor eine neue Existenz auf, doch die Erinnerung an den Geliebten und seine Schuldgefühle ließen ihn nicht los. Erst durch die Begegnung mit Giovanna gelingt Davide die Aussöhnung mit sich selbst. Er entdeckt sich in der jungen Frau wieder und bestärkt sie darin, ihren eigenen Weg zu gehen; ein Weg, der sie nicht geradewegs in die Arme eines anderen Mannes treibt, sondern in erster Linie zu sich selbst.
Ehebruch, Homosexualität, Nationalsozialismus: an heiklen Themen mangelt es nicht. Özpetek aber gelingt es mit traumwandlerischer Sicherheit, seinem Stoff die vordergründige Schärfe zu nehmen, ohne ihn seiner Kraft zu berauben. Durch einen sanften, surrealen Schleier hindurch lässt er die Wirklichkeit nicht aus dem Auge. Dem Regisseur und seinem hervorragenden Ensemble ist ein besonderer Film gelungen: zwei traurigschöne Liebesgeschichten, verflochten zu einem Werk von tiefer Poesie.
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