Ein Ausdruck unablässiger Verwunderung steht dem jungen Jong-soo tief ins Gesicht geschrieben. Es ist nicht das freudige, weltumarmende Erstaunen, das Kindern eigen ist, vielmehr eine seltsame Mischung aus Verhuschtheit und Verdatterung – als sei er von seinem Dasein noch halb im Schlaf überrascht worden.
Mit meist halb offen stehendem Mund und seltsam unschlüssigen, vergurkten Bewegungen stolpert Jong-soo durch die Welt; so betritt er auch den Film „Burning“ von Lee Chang-dong. In der ersten Szene transportiert er hastig ein paar Waren zu einem Marktstand. Als eine junge Animateurin ihn adressiert und dann auch noch namentlich anspricht, fühlt er sich zunächst gar nicht gemeint. Jong-soo ist es nicht gewohnt, gesehen, angesprochen oder gar angeflirtet zu werden. Erst recht nicht von einer hübschen Frau wie Hae-mi.
Der große und der kleine Hunger
Hae-mi, die sich als ehemalige Schulkameradin aus der Grenzstadt Paju herausstellt, lässt Jong-soo bei der Lotterie eine rosa Armbanduhr gewinnen. Er schenkt sie ihr. Später gehen sie zusammen etwas trinken, beim nächsten Treffen haben sie Sex. Der Zeitpunkt für ihre Begegnung ist allerdings denkbar ungünstig. Hae-mi steht kurz vor ihrer Abreise nach Afrika – sie will dort den Sinn des Lebens suchen, den „großen Hunger“ (der „kleine Hunger“, erklärt sie ihm, sei der buchstäbliche Hunger).
Als sie einige Wochen später wiederkehrt, ist ein anderer Mann an ihrer Seite. Ben verkörpert alles, was Jong-soo vermissen lässt: Weltgewandtheit, Lässigkeit, Eleganz, Reichtum. Jong-soo nennt ihn nicht umsonst einen „Gatsby“. Denn Ben ist nicht lesbar, er lässt nichts erkennen hinter seinem gut aussehenden, stets freundlichen Gesicht, das sich nur gelegentlich durch ein gelangweiltes Gähnen verrät. Jong-soo wird in dem neuen Dreiergespann auf die Position des alten und etwas provinziellen Freundes aus der Kindheit verwiesen. Der die kleine Hae-mi, als sie mit sieben Jahren in einen Brunnen fiel, gefunden haben soll. So erzählt sie es.
Dann ist sie plötzlich verschwunden, und Jong-soo findet sich in einem Mystery-Thriller wieder, in dem der mysteriöse Ben in seinen Augen immer mehr zum Verdächtigen wird.
Ein Werk der Brüche und Ungewissheiten
Der Film von Lee Chang-dong, der auf der Kurzgeschichte „Scheunenabbrennen“ von Haruki Murakami basiert, ist zunächst nicht so einfach zu fassen. „Burning“ ist ein Werk der Brüche und Ungewissheiten, gleichzeitig steht neben dem Vagen ein geradezu romanhafter Reichtum in der Ausformulierung konkreter Situationen. Die Sexszene zwischen Hae-mi und Jong-soo ist in ihrer Komplexität geradezu meisterlich. Sie verschiebt die Perspektive auf all die Empfindungen und Wahrnehmungen, die neben Jong-soos Begehren eben auch noch anwesend sind, zu ihm aber asynchron stehen. Anstatt sich der Lust zu überlassen, wandern seine Augen nervös in Hae-mis vollgestopftem Zimmer umher, bis sein Blick auf ein Lichtspiel fällt.
Von Beginn an weisen Zeichen und Fährten auf eine Abwesenheit und die Möglichkeit des Verschwindens. „Du musst vergessen, dass da nichts ist. Nicht dir vorstellen, dass da etwas ist“ – so erklärt Hae-mi Jong-soo einmal das Geheimnis der Pantomime anhand einer imaginierten Mandarine, die sie zuerst sorgfältig schält, um sie dann mit ausgestelltem Genuss zu verspeisen. Auch die Katze, die Jong-soo in ihrer Abwesenheit füttern soll, zeigt sich nicht; ihre Existenz wird mehrfach sogar in Frage gestellt.
Auch zu der Geschichte mit dem Brunnen gibt es widersprüchliche Angaben. Einmal heißt es, es habe im Dorf gar keinen Brunnen gegeben und Hae-mi habe schon immer Geschichten erfunden. Dabei ist für die Fiktion eigentlich Jong-soo zuständig: Er träumt davon, Schriftsteller zu werden und Romane zu schreiben. Man kann sich das nur schwer vorstellen; das einzige Schriftstück, das man ihn schreiben sieht, ist an die Justiz gerichtet. Andererseits: Befindet man sich unwissentlich vielleicht nicht schon in einer seiner Geschichten?
Ein gekonnter Balanceakt
Lee Chang-dong spielt mit Paranoia und Suspense – die Filmmusik von Mowg ist sparsam dosiert, hält aber auch die Nähe zum Genrekino in der Schwebe. „Burning“ unternimmt einen gekonnten Balanceakt zwischen Thriller-Elementen, psychologischer Erzählung, dokumentarischer Beobachtung (etwa in den Passagen, die im rumpeligen Elternhaus Jong-soos spielen) und einem Lyrizismus, der sich ganz dem Moment überlässt – etwa wenn ein Abend zu dritt in einem Tanz Hae-mis vor der untergehenden Sonne endet. Die Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen und ihre Selbstvergessenheit – zum Missfallen Jong-soos entkleidet sie sich dabei – machen seine ungelenke Körperlichkeit einmal mehr spürbar. Er stolpert weiter, bis sein Schritt schließlich von einem rastlosen, ja panischen Rennen abgelöst wird.