Eine nach der Novelle "Karl und Anna" (1926) von Leonhard Frank erzählte unerhörte Begebenheit: Ein Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg gibt sich bei der Frau eines in Russland zurückgebliebenen Kameraden als deren Ehemann aus und wird von ihr als Lebensgefährte akzeptiert. Ein nuancenreiches Kammerspiel über das Verhältnis von Lüge und Wahrheit, Schein und Realität, die Problematik des Identitätstauschs und der Suche nach dem eigenen Ich. Die zurückhaltend agierenden jungen Hauptdarsteller vermitteln hervorragend die Selbstzweifel und Irritationen der vom Krieg gezeichneten Seelen. (Der einzige DEFA-Film, der mit dem "Goldenen Bären" der "Berlinale" ausgezeichnet wurde; Kinotipp der katholischen Filmkritik.)
- Sehenswert ab 14.
Die Frau und der Fremde
Drama | DDR 1985 | 97 Minuten
Regie: Rainer Simon
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Filmdaten
- Produktionsland
- DDR
- Produktionsjahr
- 1985
- Produktionsfirma
- DEFA, Gruppe "Johannisthal"
- Regie
- Rainer Simon
- Buch
- Rainer Simon
- Kamera
- Roland Dressel
- Musik
- Reiner Bredemeyer
- Schnitt
- Helga Gentz
- Darsteller
- Kathrin Waligura (Anna) · Joachim Lätsch (Karl) · Peter Zimmermann (Richard) · Katrin Knappe (Marie) · Christine Schorn (Trude)
- Länge
- 97 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Drama | Literaturverfilmung
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
In seiner 1926 erschienenen Novelle „Karl und Anna“ erzählt Leonhard Frank von einer unerhörten Begebenheit: Ein aus russischer Kriegsgefangenschaft geflohener Soldat geht zu der Frau eines Kameraden, gibt sich als deren Mann aus. Die Frau weiß es besser, aber sie gerät in einen Strudel merkwürdigster Gefühle, denn der Fremde kennt alles von ihr: ihre Eigenheiten, ihre Träume, selbst die verborgenen Geheimnisse ihres Körpers. Schließlich hatte ihm der Kriegskamerad in langen Tagen und Nächten von der Liebsten erzählt. Als der tatsächliche Ehemann nach Monaten aus Russland nach Hause kommt, sind die Frau und der Fremde längst ein Paar – es gibt kein Zurück mehr in die Zeit davor.
Wie andere Filmemacher vor ihm – etwa Joe May in „Heimkehr“ (1928) – entdeckte auch Rainer Simon in diesem Stoff eine grandiose Vorlage fürs Kino: Sehnsucht, Täuschung, Hingabe, Liebe, Schmerz und Verzweiflung waren hier zu einem dichten Knäuel verwoben; eine Achterbahnfahrt der Gefühle, bei der nicht jedes Verhalten, nicht jede Wendung rational zu deuten war. Besonders interessierte sich Simon für „das nie gänzlich zu durchschauende Spiel zwischen Lüge und Wahrheit, zwischen Schein und Realität, die Problematik des Identitätstausches, des Identitätsverlustes“. „Die Suche nach dem eigenen Ich“, so gab er im Januar 1985 zu Protokoll, „artikuliert sich in Zeiten der sozialen Krise, der physischen Existenzbedrohung besonders.“ Obwohl er damit thematisch an seine vorangegangenen Filme „Jadup und Boel“ (der 1981 noch vor der Premiere verboten worden war) und „Das Luftschiff“ (1983) anknüpfte, suchte Simon stilistisch nach neuen Ufern. Tatsächlich drängte die Fabel auch weniger zum Gesellschaftspanorama als zum Kammerspiel, dessen feinste Nuancen freilich den Blick auf einen gesellschaftlichen Zustand öffneten. Die Wunden des Krieges bedurften hier keiner Materialschlachten; sie spiegelten sich auf den Gesichtern, in den Handlungen und Haltungen der Figuren wider. Simons bravouröser Kameramann Roland Dressel fotografierte die Wohnküche, in der sich ein Großteil des Geschehens zuträgt, als Refugium und zugleich als Falle; entsprechend sind die Lichtstimmungen gesetzt. Auch bei den Bildern der russischen Steppe, in der sich die beiden Männer zunächst begegnen, schwingt trotz des weiten Horizonts immer das Bewusstsein von Enge und Gefangensein mit. Dass sich Simon und Dressel von vornherein von einer naturalistischen Erzählweise lösen und ihren Film zur Parabel stilisieren wollten, belegt der Wechsel von farbigen und schwarz-weißen, wie bei einem Stummfilm mit leichtem Grau, Braun und Blau unterlegten Szenen. Das Prinzip dieses Farbwechsels mag auf den ersten Blick kaum zu durchschauen sein, findet seine Erklärung aber in der Psychologie einer der Figuren: Wenn der „falsche“ Ehemann Karl die fremde Identität annimmt, sich also gleichsam in Richard verwandelt, wird das Bild farbig; wenn er ganz bei sich ist, ist es schwarz-weiß.
Auf die sonst häufig bei ihm anzutreffenden satirischen Momente hat Simon fast völlig verzichtet. Der von oben befohlenen, durchaus auf fruchtbaren Boden gefallenen Kriegsbegeisterung begegnet er mit gewohntem Sarkasmus. Ein Kinderchor, der das Lied „Kein schöner Tod ist’s auf der Welt als wie vom Feind erschlagen“ intoniert, wird von Aufnahmen eines Kriegsinvaliden konterkariert, der vor einem Hindenburg-Denkmal bettelt: ohne Beine und ohne Lebensmut. In der Schlussszene wird er seinen Kopf auf Bahnschwellen legen. Kathrin Waligura als Anna, Joachim Lätsch als Karl, beides Filmdebütanten, und Peter Zimmermann als Richard wurden von der Regie zu einem zurückhaltenden, nur gelegentlich eruptiven Spiel angehalten, ganz ohne Pathos, dafür voller Selbstzweifel und Irritationen. „Die Frau und der Fremde“ ist der einzige DEFA-Film, der mit dem „Goldenen Bären“, dem Hauptpreis der „Berlinale“, ausgezeichnet wurde.
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