Jetzt ist wieder Tomatenzeit. Sie schmecken süß, nach Sonne und Süden. Tomate, Mozzarella und Basilikum: Es wird Sommer! Unsere Tomaten, jedenfalls viele davon, vor allem auch jene in Dosen, kommen aus Italien. Doch die „Tomatenproduktion basiert auf der Versklavung der Afrikaner“; so fasst es pointiert der italienische Gewerkschafter Raffaele zusammen.
So klar, deutlich und unumwunden wie selten zeigt der Schweizer Filmemacher Markus Imhoof mafiöse, unmenschliche, unverantwortliche Strukturen auf. Doch „Eldorado“ ist kein investigativer Film, wie es auch schon Imhoofs dokumentarischer Vorgänger „More than Honey“ nicht war: Auch in dem Film über das große Bienensterben geht der Regisseur von einer persönlichen Geschichte aus und schließt diese mit Bildern kurz, die man in den Nachrichten sieht und die von globalen Zusammenhängen handeln. Er spricht von frühkindlichen Erkenntnisproblemen: Wer ist „Ich“? Wer ist gemeint, wenn die anderen von „Ich“ sprechen – oder von „Uns“? Dieses „Ich“ und das „Uns“ ordnet der Regisseur, assoziativ und emotional, in die Zusammenhänge ein.
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Im Jahr 1945 nahm die Mutter von Imhoof ihren Sohn, Jahrgang 1941, mit zum Bahnhof. Dort kamen Züge mit Flüchtlingskindern an. Ein italienisches Mädchen ging dann mit zu ihnen nach Hause: Giovanna. Sie kehrte später wieder ins von Bombenangriffen zerstörte Mailand zurück, zu ihrer Mutter, die inzwischen gesundet war. Ein Briefwechsel mit Giovanna begleitet „Eldorado“ als Off-Kommentar; immer wieder zeigt Imhoof Material aus dem Familienarchiv: Alte Briefe, bunte Kinderzeichnungen, Schwarz-weiß-Fotografien, später auch Super 8-Filme. Dieser filmische Kurzschluss war überfällig: Waren nicht viele von uns oder unsere Mütter und Väter, unsere Großmütter und Großväter vor wenigen Jahrzehnten selbst noch Flüchtlinge – oder beherbergten sie?
Giovanna und ein weiterer Flüchtlingsjunge aus Österreich, den seine Familie aufnahm, hatten Imhoof 1981 bereits zu seinem Spielfilm „Das Boot ist voll“ inspiriert, über eine Gruppe Flüchtlinge, die während des Zweiten Weltkriegs verzweifelt versucht, in der neutralen Schweiz zu bleiben. In „Eldorado“ montiert Imhoof parallel: Giovannas Weg, seinen Weg und denjenigen der Flüchtlinge. Den wiederum beschreibt der Gewerkschafter Raffaele mit Dante’schen Termini: Sie gingen durch die Hölle, die Mafia-Versklavung in Italien sei für sie das Fegefeuer, nur eine Zwischenstation. Sie wollen weiter ins Paradies – nach Nordeuropa, in die Schweiz oder nach Deutschland. Nur müssen sie, der Dublin-Verordnung entsprechend, im Fegefeuer bleiben; dort haben sie ihre Fingerabdrücke hinterlassen, dort haben ihre Füße Land berührt. Die Schweiz, so merkt Imhoof süffisant an, liege eben nicht am Meer, da müsste ein Flüchtling schon vom Himmel fallen. Aber ab und zu verirre sich dann doch mal einer hierher. Einquartiert werden sie dann in unterirdischen Bunkern. Es sei denn, man kaufe sich vom „Flüchtlingsjoch“ frei – wie geschehen in einem der reichsten Dörfer, für eine Viertelmillion Schweizer Franken.
Erinnerungen, die auf Liebe basieren
Imhoof beschreibt, was er sieht, wenn er den Flüchtlingen in die Augen blickt: Oft ist es Hoffnung, denn auf der anderen Seite, hinter der Kamera, steht ja er, ein Schweizer. Auf dem Schiff, eines aus der Operation „Mare Nostrum“, fragt ihn ein junger Mann, ob er ihm nicht dabei helfen kann, keine Fingerabdrücke abgeben zu müssen. Er möchte zu Familienangehörigen nach Dänemark. In einer berührenden Szene wischt ein Mädchen wütend Wasserflaschen vom Tisch, als ihre Familie an der Schweizer Grenze aus dem Zug geholt und zurück nach Italien geschickt wird.
Der Gewerkschafter Raffaele erläutert den Kreislauf der Ausbeutung: EU-Subventionen unterstützen die Landwirtschaftsbetriebe. Die von den illegalen afrikanischen Flüchtlingen geernteten Tomaten werden dann nach Nordeuropa verkauft – und nach Afrika. Dort erwerben die Angehörigen der Geflüchteten dann Tomaten mit dem Geld, das eben diese von ihrem absurd niedrigen Lohn (30 Euro pro Tag abzüglich 15 Euro für den Capo) abgezweigt und zurück nach Hause geschickt haben.
„Eldorado“ ist ein dringlicher, zutiefst humanistischer Appell: „Das Einzige, was uns am Ende bleibt, sind Erinnerungen, die auf Liebe basieren.“ Imhoof fragt: „Wer ist uns?“ Uns, das sind wir. Und sind wir nicht verantwortlich füreinander? Wir Europäer, wir Nordeuropäer, wir Deutsche. Wir Afrikaner, wir Ivorer, wir Menschen.