Drama | Norwegen/Frankreich/Dänemark/Schweden 2017 | 116 Minuten

Regie: Joachim Trier

Eine junge, schüchterne Frau nimmt in Oslo ein Biologiestudium auf, wo sie von ihren streng religiösen, ihr aber sehr zugewandten Eltern ständig angerufen wird. Als sie sich der elterlichen Kontrolle entzieht, studentische Freiheiten genießt und in eine Kommilitonin verliebt, erleidet sie einen epileptischen Anfall, dessen Ursachen sich medizinisch nicht aufklären lassen. Das durchgängig aus der Perspektive der überforderten Protagonistin erzählte Drama spielt mit filmgeschichtlichen Anleihen und Elementen aus dem Horrorgenre, handelt mit großer Ernsthaftigkeit aber auch von Einsamkeit und unbestimmten Ängsten. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik Im Kino sehen

Filmdaten

Originaltitel
THELMA
Produktionsland
Norwegen/Frankreich/Dänemark/Schweden
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
Motlys/Eurimage/Le Pacte/Nordic Film och TV Fund/Norwegian Film Institute/Snowglobe Films/Film i Väst
Regie
Joachim Trier
Buch
Joachim Trier · Eskil Vogt
Kamera
Jakob Ihre
Musik
Ola Fløttum
Schnitt
Olivier Bugge Coutté
Darsteller
Eili Harboe (Thelma) · Kaya Wilkins (Anja) · Henrik Rafaelsen (Trond) · Ellen Dorrit Petersen (Unni) · Grethe Eltervåg (Thelma mit 6 Jahren)
Länge
116 Minuten
Kinostart
22.03.2018
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Fantasy
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Heimkino

Verleih DVD
Koch (16:9, 2.35:1, DD5.1 norw./dt.)
Verleih Blu-ray
Koch (16:9, 2.35:1, dts-HDMA norw./dt.)
DVD kaufen

Komplexes Drama um eine norwegische Biologinstudentin, die epileptische Anfälle erleidet, als sie sich aus ihrem religiös strengen Elternhaus zu lösen versucht.

Diskussion
Nach seinem Ausflug ins US-Arthouse-Kino („Louder Than Bombs“ (fd 43 603) ist der Regisseur Joachim Trier nach Norwegen zurückgekehrt und macht da weiter, wo er mit „Reprise – Auf Anfang“ (fd 38 258) und „Oslo, 31. August“ (fd 41 612) aufgehört hat. Trier erzählt „Coming-of-Age“-Geschichten durch die Filmgeschichte hindurch. Waren es bislang produktive Anleihen bei der Nouvelle Vague und bei Louis Malle, so wendet er sich in „Thelma“ filmisch dem Horrorgenre der 1970er-Jahre zu, bleibt dabei aber dem rigiden Protestantismus Skandinaviens verhaftet. Was „Thelma“ zu einer überraschend tragfähigen, aufreizend experimentellen Mischung aus Brian de Palma und Carl Theodor Dreyer, Stephen King und Ingmar Bergman werden lässt. Als Exposition fungiert eine mysteriöse Szene, deren Geheimnis (vielleicht) erst ganz am Ende gelüftet wird. Sie zeigt einen Mann mit Waffe und ein Kind im Winter auf der Jagd. Als ein Tier ins Visier kommt, ist das Kind fasziniert. Der Vater hebt das Gewehr, zielt auf das Tier, wendet dann aber die Waffe gegen den Kopf des Kindes, das davon nichts bemerkt. Wie kommt das Böse in die Welt? Und wer schützt uns vor uns? Der strafende Vater? Anschließend lernt man die junge Thelma kennen, von Eili Harboe herausragend verkörpert. Die schüchterne Frau nimmt in Oslo ein Biologiestudium auf, wo sie von ihren streng religiösen, ihr sehr freundlich zugewandten Eltern häufig angerufen und kontrolliert wird. Thelma steht gewissermaßen unter permanentem Beichtzwang. Als sie eines Tages in der Bibliothek die Kommilitonin Anja kennenlernt, erleidet sie einen epileptischen Anfall. Eine ärztliche Untersuchung ergibt keinen klinischen Befund, aber je mehr Thelma sich der elterlichen Kontrolle entzieht, sich auf das studentische Leben mit harmlosen Grenzüberschreitungen und die lesbische Erfahrung mit Anja einlässt, desto stärker geraten die Anfälle. Die Inszenierung bedient sich dabei einschlägiger Elemente aus dem Horrorgenre: Vogelschwärme als Vorboten des Schreckens, knackende Gebäudedecken, Albträume und Flashbacks, von denen nicht ausgemacht ist, wer sie „erzählt“. Trier und sein Drehbuchautor Eskil Vogt wählen durchgängig die Perspektive der überforderten Protagonistin und fungieren darüber souverän als unzuverlässige Erzähler, die entscheidende Leerstellen direkt an den Zuschauer weitergeben, was von der beeindruckend Filmmusik von Ola Flöttum wirkungsvoll unterstützt wird. Hat Thelma die elterliche Kontrolle derart internalisiert, dass ihr Bewusstsein gegen die Grenzüberschreitungen rebelliert? Oder verfügt sie über paranormale Kräfte, die anderen Menschen gefährlich werden können? Wissen die Eltern davon und versuchen deshalb ihre Tochter zu kontrollieren? Was ist Realität, was Einbildung? Dass die Lust an der Loslösung vom Elternhaus in Schrecken, Schmerz und Schuldgefühle umschlagen kann, ist im Kino nicht neu. Kaum übersehen lässt sich das intertextuelle Spiel des Films mit Brian de Palmas Stephen-King-Verfilmung „Carrie“ (fd 20 286). Andererseits erzählt „Thelma“ aber mit so großer Ernsthaftigkeit von Einsamkeit und unbestimmten Ängsten, dass man den Film auch als Fortschreibung bestimmter Motive aus Triers „Oslo, 31. August“ sehen kann. Schließlich fügen sich all die widersprüchlichen Puzzleteilchen in einem unmissverständlichen Finale zu einem fürchterlichen Bild, das auch das Vorspiel zu integrieren versteht. Allerdings könnte auch dies in seiner kristallinen Eindeutigkeit ein Traum sein. Ein Albtraum oder ein Wunschtraum – je nach Perspektive.

Kommentieren