Wie ein langer, nasser Vorhang hängen die Haare um das schöne Gesicht, auf das die erste Einstellung in Form eines Gucklochs stößt. In kurzen Schnitten lässt sich eine junge Frau einen Kurzhaarschnitt verpassen und starrt entschlossen, geradezu wütend in die Kamera. Chloé schaut den Zuschauer an. Und Regisseur François Ozon antwortet mit einem Blick in ihr Innerstes, mitten hinein in ihre von einem metallenen Spekulum gespreizte Vagina. Gilt das Auge als Fenster zur Seele, präsentiert sich der gynäkologische Einblick wie ein Guckloch, um dem Begehren auf den Grund zu gehen – und damit zugleich den historischen Fehlschluss von psychischer Störung und Geschlecht, Hysterie und Gebärmutter.
Ein erneuter Close-Up auf Chloés Auge enthüllt eine herablaufende Träne, als die Frauenärztin erklärt, dass die ausbleibende Periode von einer Infektion herrührt, nicht aus einer Schwangerschaft. Für Chloés anhaltende Bauchschmerzen, mutmaßlich psychosomatischen Ursprungs, empfiehlt sie einen Psychiater. Der blonde Arzt, dem Chloé in der Folge mit dicken Rändern unter den Augen gegenübersitzt, während die Kamera die Köpfe der beiden via unsichtbarem Splitscreen ganz nah aneinanderrücken lässt, heißt Paul Meyer. Chloé spricht, Paul schweigt, doch die gegenseitige Anziehung ist nicht zu verneinen. „Wenn Sie mich so angucken, habe ich das Gefühl zu existieren“, sagt Chloé einmal. Da guckt Paul sofort zur Seite. In den folgenden Sitzungen nimmt er die Brille ab. Sie erscheint in Rock und High Heels. Kurze Zeit später gesteht Paul ihr seine Gefühle. Die Verliebten küssen sich, ziehen in eine gemeinsame Wohnung. Näher kommen sie sich dadurch aber noch lange nicht.
Pauls Abneigung gegen Chloés Kater irritiert; allerdings nicht so sehr wie der alte Personalausweis, der Chloé beim Umzug in die Hände fällt, und der Paul mit anderem Nachnamen ausweist. „Du weißt so viel über mich, und ich weiß kaum etwas über dich“, gesteht sie Paul am Abend traurig. Noch verwirrender ist, dass Chloé Paul eines Tages vor einem großen Arztgebäude stehen sieht, obwohl der später behauptet, den ganzen Tag in der Klinik gewesen zu sein. Eines der Schilder auf der Gebäudefront verweist auf eine therapeutische Praxis, die unter Pauls früherem Nachnamen läuft. So steigt Chloé erneut eine Wendeltreppe zu einem Seelenklempner hinauf, passiert mit gebrochenen Spiegelkonstruktionen ausgekleidete Vorzimmer und trifft wieder auf Paul – nur dass dieser Louis heißt und das Gegenteil seines Zwillingsbruders Paul ist: herrisch, unverschämt direkt, und damit für Chloé sexuell umso anziehender.
So schön, als sei sie selbst ein Ausstellungsstück, sitzt das Ex-Modell Chloé (Marine Vacth, die auch schon in Ozons „Jung & schön“ (fd 42 011) die Hauptrolle spielte) tagsüber als stoische Museumswärterin in der Ausstellung „Fleisch und Blut“, die den menschlichen Körper in digitalen Kunstwerken seziert. Auch Ozon ist bereit, Körper in drastischen Aufnahmen auseinanderzunehmen, von kleinen Katzenherzen über weitere Einblicke in Chloés „orgasmierenden“ Körper, so als wäre die Kamera auf eine Samenzelle geschnallt, bis hin zu einem gynäkologischen Ultraschall, der gerade dann abbricht, als man mehr über Chloés Schwangerschaft erfährt.
Was wahr ist und was falsch, ist für den Zuschauer irgendwann so undurchschaubar wie für die schwangere Chloé, der nicht nur der Mann im eigenen Bett, sondern auch die Frau von nebenan nicht ganz geheuer erscheint. Bedrohungen werden verlagert, Freund und Feind tauschen die Rollen. Die Filme von Roman Polanski, insbesondere „Rosemaries Baby“ (fd 15 794), „Ekel“ (fd 13 553) und „Der Mieter“ (fd 19 973), kommen in den Sinn. Meisterhaft spielt Ozon mit filmischen Assoziationen, die in eine vom Psychothriller-Genre bestimmte Richtung denken und fühlen lassen, nur um dann mit geschickten Haken wider Erwarten doch zu überraschen. Elegant, verführerisch und doppelbödig wie Pauls Zwillingsbruder Louis wird man auf eine falsche Fährte geschickt, deren Umgebung so ultramodern aussieht, weil sie auf Geometrie fußt, dann aber doch ins 1980er-Kino eines Brian De Palma zurückverweist.
Etwas in die Jahre gekommen wirkt der Zugang zu Chloés versponnenen Gedanken nicht zuletzt auch deshalb, weil sich Ozon so exzessiv in Sinnbildern wälzt: Spiegel allerorten, Wendeltreppen und Doppelgänger, horreske Ausgeburten des Kopfes, die sich wie selbstverständlich in eine Realität einschmiegen, die längst nicht mehr objektiv ist. Der „andere Liebhaber“ erweckt dennoch eine so hitzige wie kühle Phantasmagorie, die mit der Wirklichkeit ohne sichtbare Nahtstellen verfließt und damit an frühere Ozon-Filme wie etwa „Swimming Pool“ (fd 36 089) erinnert.
In seinem offensiv künstlichen Look verweist der Psychothriller allerdings auch wieder ganz auf sich selbst, spiegelt seine Geschichte im allzu glatten Gewand moderner Lebensentwürfe, die nur von innen heraus aufzubrechen sind. Chloé muss sich von den promiskuitiven Schuldzuweisungen befreien, die sie aus sich selbst heraus gebiert. Das packt einen nicht nur als Zuschauer, sondern verweist zugleich auf Ozons großes inszenatorisches Geschick.