Der Film beginnt mit einer irritierenden Sequenz, mit Bildern, die gleichzeitig schön und erschreckend sind: eine tief verschneite Landschaft, in der eine junge Frau um ihr Leben rennt. Man hört nichts als den Wind und eine wispernde indianische Stimme, die Zeilen eines Gedichts rezitiert. Die Frau bricht in der eisigen Kälte zusammen.
Es wird den ganzen Film um ihr Schicksal gehen, um die Frage, wer ihr das angetan hat, bis die Geschichte in einer anderen Szene kulminiert, hoch in den verschneiten Bergen, in denen der Täter, der die junge Frau verprügelt und vergewaltigt hat, deren Schicksal am eigenen Leib erfährt.
Der Film von Taylor Sheridan lebt von Gegensätzen. Sein Amerika hat zwei Gesichter. Es ist das Amerika, das er liebt, und es ist das Amerika, das er hasst. Sheridan hat für „Sicario“
(fd 43 380) und „Hell or High Water“
(fd 43 399) das Drehbuch geschrieben; bei „Wind River“ führt er auch Regie. Das Land, das er liebt, ist voller Schönheit und Mitgefühl, das Land, das er hasst, voller Seelenlosigkeit und Gewalt. Die drei Filme lassen sich durchaus als Amerika-Trilogie sehen, nicht des Amerikas der großen Städte, sondern der weiten, karg besiedelten Landstriche, in denen man froh sein muss, überhaupt Hilfe zu finden, wenn man sie braucht. Sheridans Filme sind Thriller, aber sie fühlen sich nicht an wie Thriller, da die Liebe für das Land, für die Menschen und für deren harte Lebensweise im Vordergrund stehen. Bis die Gewalt mit elementarer Wucht in sie einbricht.
Die Hauptfigur in „Wind River“ ist Cory Lambert, ein Jäger und Fährtensucher für den U.S. Fish and Wildlife Service in einem abgelegenen Teil Wyomings. Cory hat den Tod seiner eigenen Tochter noch nicht überwunden und stellt sich nicht zuletzt deshalb zur Verfügung, als man jemanden zur Aufklärung des offensichtlichen Mordes an der jungen Frau braucht. Offiziell mit dem Fall beauftragt ist eine FBI-Agentin ohne viel Erfahrung, die aus dem weit entfernten Las Vegas eingeflogen wird, eine mit Land und Leuten unvertraute Frau, die aber ehrlich bemüht ist, ihr Bestes zu geben. Wie nötig gerade sie den Fährtensucher braucht, stellt sich rasch heraus, denn die Spur führt in die Unwirtlichkeit der Berge, zur Niederlassung einer Petroleumgesellschaft, wo die Arbeiter in einer Einsamkeit leben, die aus nichts als Schnee und Schweigen besteht. Das Land gehört zu einem Indianerreservat; die oft komischen Zuständigkeiten der jeweiligen Polizeiorgane sind nicht die einzigen charakteristischen Details, die Sheridan anbietet, um die Geschichte von der puren Kriminalstory zu einem glaubhaften Porträt des Lebens in der Isolation zu verdichten.
„Wind River“ ist eine Geschichte von Weißen, Indianern und Mischlingen, die hier ihre Heimat haben, aber immer auch das Gefühl mit sich tragen, Ausgesetzte in der Wildnis zu sein. Der Film bringt erstaunlich viel Zeit damit zu, dem Zuschauer das Gefühl von Authentizität zu vermitteln. Dabei stehen oft mehr die persönlichen Schicksale im Vordergrund als der Fortgang der Kriminalgeschichte. Wer hauptsächlich auf Action aus ist, mag das als Nachteil empfinden. Aber mit faszinierenden Darstellern bis hin zu dem örtlichen Polizeichef, dem seit „Der mit dem Wolf tanzt“
(fd 28 748) bekannten indianischen Schauspieler Graham Greene, dem in seinem Schmerz versteinerten Vater der Ermordeten (Gil Birmingham) und einem sensiblen Kameramann wie Ben Richardson lässt sich das machen.
Vor allem der Fährtensucher Cory (Jeremy Renner) setzt eine lange Hollywood-Tradition weißer Jäger und Siedler fort, die unter Indianern ihr Zuhause und ein geistiges Zentrum gefunden haben: ein zeitgenössischer Nachfolger der Helden eines Sub-Genres, das in den USA „Survival Film“ genannt wird. Mehr als einmal fühlt man sich an Jeremiah Johnson erinnert, die Hauptfigur in Sydney Pollacks gleichnamigem Film
(fd 18 030), für den ebenso der Satz galt, den Cory über die Bewohner dieses entlegenen Teils Amerikas sagt: „Dieser Schnee und das Schweigen – das ist das Einzige, was man ihnen nicht weggenommen hat.“