Was war das für ein fantastisch-unheilvoller Beginn, als Ridley Scotts „Blade Runner“
(fd 23 689) aus dem Jahr 1982 auf dem Synthesizer-Soundteppich von Vangelis in die nächtliche Megalopolis von Los Angeles einschwebte. Feuer spuckende Kamine spiegelten sich mit dem Lichtermeer der Stadt auf der Iris eines Mannes, der die gigantischen Tyrell-Pyramiden ansteuerte. Mit der Detailaufnahme eines Auges beginnt auch „Blade Runner 2049“. Nur dass sich in dieser Iris nichts mehr spiegelt, und dass Denis Villeneuve seinen Blade Runner am helllichten Tage auftauchen lässt.
Von der Sonne zeugen im Kalifornien des Jahres 2049 nur noch riesige Felder voller Sonnenkollektoren unter einem verhangenen Himmel. Auf der Erde reihen sich nahtlos unzählige Agrar-Boxen aneinander, in denen die synthetische Nahrung nach der großen Klimakatastrophe produziert wird.
Nach den Aufständen der als Arbeitssklaven eingesetzten Replikanten hat der Konzern des Großindustriellen Wallace die pleite gegangene Tyrell Corporation übernommen. Davon erzählen die ersten Texttafeln zu Beginn des Films. Ein Blade Runner namens K fliegt über die Agrarfelder, um eines der alten, gewalt-anfälligen Nexus 8-Modelle aus dem Verkehr zu ziehen. „Ihr seid nur so scharf darauf, uns auszulöschen, weil ihr noch nie ein Wunder gesehen habt“, bekommt K von einem harmlosen Protein-Farmer an den Kopf geworfen, bevor der sich schlagkräftig gegen seine Eliminierung zur Wehr setzt.
Ein Sturm kommt auf, prophezeit Ks Vorgesetzte Joshi, als ihr bester Mann ins regnerische, später von dreckigem Schnee eingedeckte Los Angeles zurückfliegt. Das ist durchaus metaphorisch gemeint, in einer Welt, in der es mittlerweile sogar zwei Klassen künstlicher Menschen gibt: K lebt mit einer Frau zusammen, die nicht einmal mehr aus Fleisch und Blut ist; Joi ist ein Hologramm, das man nicht berühren kann, das aber in Nanosekunden alles darzustellen bereit ist, was einen dieser schönen neuen Welt entfliehen lässt.
„Blade Runner 2049“ ist selbst ein Replikant von einem Film, von dem man befürchtete, dass er sich über das Original hinwegsetzen könnte. Doch Villeneuve hat etwas komplett Neues geschaffen, ohne den Geist der Vorlage zu verraten. Atemberaubend wunderschön und schrecklich zugleich sind die (Farb-)Welten, mit denen Kameramann Roger Deakins die Urbanität der Vorlage auffächert, ohne sich darin zu verlieren. K schlittert in die grau schattierte Müllhalden der Stadt. Er durchschreitet die atomaren Wüsten eines in Gelb-Orange getauchten Las Vegas mit riesigen Frauenstatuen und einem Casino, in dessen Bauch die großen Stars der Menschheitsgeschichte als flackernde Hologramme vereint sind. Und mitten im klaustrophobisch engen L.A. ragt ein Gebilde in den Himmel, das in seiner Gigantomanie aller Proportionen spottet, auch was die Erinnerungsleistung seiner im Inneren verborgenen, mit Platinen gefüllter Gedenksteine angeht.
Denis Villeneuve ist klug genug, mit ähnlichen Figuren und Motiven auf den ersten „Blade Runner“-Film zu rekurrieren. Da ist der blinde, sich quasi-göttlich gerierende Schöpfer Wallace, der nur mit Hilfe ihn umschwirrender Sonden zu sehen vermag. An seiner Seite steht die kühle Assistentin Luv, die ihrem Namen und ihrem Vorbild Rachael keine Ehre macht. Da sind die Prostituierten, die sich in den Straßenschluchten des Molochs zwischen den Imbissen und den Regenfäden hindurchwinden. Japanische Schriftzeichen, Sony und Atari blinken auf. Russische Balletttänzerinnen tanzen als riesige Hologramme durch die vom Nebel halb verschluckten Passanten. Ein altes Klavier enthüllt Privates. Man verzeiht Villeneuve sogar, dass er hier keine der zu seinem Markenzeichen gewordenen, vor Hochspannung vibrierenden Szenen in die Handlung einflicht, sondern die Adaption lieber in kühler Grundspannung vor sich hin gleiten lässt.
Man stört sich auch nicht daran, dass er für jedes Geheimnis unbedingt eine Antwort finden will, was den Film von der Deutungsoffenheit seines Vorgängers unterscheidet. Allerdings sind die Fragen nach dem Künstlichen Menschen in den letzten drei Jahrzehnten schon so oft ausbuchstabiert worden, dass es schwer wird, jenseits der genetischen und binären Codes nach Wahrheiten zu suchen.
Die Inszenierung vermag in dem ganzen Spektakel der Künstlichkeit dennoch die berührende Frage aufzuwerfen, was das Menschliche in uns eigentlich ausmacht: Die Geburt oder der Tod? Der Wille, für eine größere Sache zu sterben? Eine echte Erinnerung, die konfuser ist als eine implantierte? Oder reicht es schon, seinem menschlichen Schöpfer auf emotionaler Ebene das Wasser reichen zu können, etwa als binäres Hologramm, das an jeder Ecke gekauft werden kann?
„Unsere Welt wird von Mauern geteilt. Wenn man einer der Gruppen erzählt, diese Mauern gäbe es gar nicht, dann bedeutet das Krieg“, warnt Joshi einmal. Das lässt sich auf die aktuelle Flüchtlingskrise wie auch auf die sozialen Auswirkungen des Turbokapitalismus hin ausdeuten. In solch einer in Stein gemeißelten Ungleichheit kann sogar ein geschnitztes Spielzeugpferd zur Trojanischen Wunderwaffe werden – gefüllt mit Ideen, die eine aus der Balance geratene Welt zum Einsturz bringt. Und wieder ist es Detective Gaff, der diesmal nicht Deckard, sondern K ein papiernes Origami-Schaf vor die Nase stellt: „Do androids dream of electric sheep?“, fragte Philip K. Dicks gleichnamige Romanvorlage. Vielleicht tun sie es. Manche von ihnen träumen auf jeden Fall von kleinen Holzpferden.