Dem Grauen geht im Kino meist das Glück voraus. Ein Glück wie das von Katja Şekerci, die ihren deutsch-türkischen Mann Nuri im Gefängnis geheiratet hat, wo er wegen Drogendelikten einsaß. Jahre später betreibt Nuri ein Übersetzungs- und Steuerberatungsbüro in Hamburg. Die wilden Jahre sind vorbei. Stattdessen gibt es ein Haus im Grünen, den gemeinsamen Sohn Rocco und für Katja ab und zu ein neues Tattoo. Ein Paar, das ein wenig gegen den Strom lebt, aber angekommen ist. Eine Familie, die zwei Kulturen vereint und in der Liebe ihr Fundament besitzt.
Regisseur Fatih Akin kann das gut, mit wenigen Bildern und Momenten eine ganze Welt eröffnen, vom Leben vielschichtiger Menschen erzählen. Doch dann bricht dieses Leben mit einem Schlag zusammen. Nuri und Rocco sterben bei einem Bombenattentat. Und für Katja beginnt eine Tour de Force, muss sie doch nicht nur den Verlust verkraften, sondern auch die Ermittlungen der Polizei in ihrem persönlichen Umfeld. Ob ihr Mann religiös, politisch aktiv oder kurdisch gewesen sei, will der Kommissar von ihr wissen. Vielleicht war er, der Vorbestrafte, der Türke, doch noch in kriminelle Geschichten verwickelt? „Mein Mann hat niemanden umgebracht“, platzt es schließlich aus Katja heraus. „Er wurde umgebracht!“
Auch bei Fatih Akin stand am Anfang die Wut. Darüber, dass die rechtsextreme Terrorzelle NSU neun Menschen mit ausländischen Wurzeln erschossen hat, Polizei wie Presse aber nicht von rassistischen Motiven ausgingen, sondern die Täter jahrelang im Umfeld der überwiegend türkischstämmigen Opfer suchten und etwa Racheakte oder Mafia-Verbindungen vermuteten. „Diese Menschen durften nicht einfach nur Opfer sein“, so Akin. Sie seien ein zweites Mal ermordet worden, weil man die Opfer wegen ihrer Herkunft kriminalisiert habe. „Aus dem Nichts“ ist das Ergebnis dieser Wut.
Der Film will keine gesellschaftspolitische Analyse sein, schon gar nicht eine Aufarbeitung der NSU-Verbrechen, auch wenn das gezeigte Attentat dem des NSU in der Kölner Keupstraße gleicht. Fatih Akin sucht einen emotionalen Zugang zu dem Geschehenen, und er tut dies mit einer Wucht, die an „Gegen die Wand“ (2004, fd 36 389) erinnert. „Aus dem Nichts“ erzählt von den Opfern des Terrors, den Hinterbliebenen, die im Fall der NSU-Verbrechen selbst zu Verdächtigen wurden. Er bricht das Schema aber auf, indem er mit Katja eine blonde Deutsche als Protagonistin etabliert; zugleich rückt er mit der Opferperspektive den Zuschauer in eine ungemütliche Position: Könnte es einem nicht wie Katja ergehen? Die sich in einem Hamam mit ihrer Freundin entspannt und nicht ahnt, dass ihr Mann und ihr Sohn zur gleichen Zeit von einer Nagelbombe zerfetzt werden. Erst als sie abends an der Polizeisperre zum Halten kommt, überfällt sie eine schreckliche Ahnung, die bald zur brutalen Gewissheit wird. Man hat ihr die Liebsten genommen. Wie soll sie, wie soll man weiterleben, wenn einem so viel Gewalt angetan wurde?
Diane Kruger verkörpert Katja mit Hingabe. Sie spielt das Szene-Girlie im Brautkleid genauso glaubhaft und bodenständig wie die Ehefrau, Mutter und schließlich die untröstlich Trauernde. Man kann gar nicht anders, als mitzufühlen, dabei ist die Figur keineswegs eine Heilige. Sie betäubt ihren Schmerz mit Drogen oder stößt ihre beste Freundin, eine werdende Mutter, vor den Kopf; doch gerade deshalb wird sie zur eigenständigen Persönlichkeit, deren Handeln in der Folge sich nachvollziehen lässt, auch wenn es nicht ohne weiteres entschuldbar ist.
Was als Melodram beginnt, verdichtet sich im Mittelteil zu einem Gerichtsdrama, in dem der Prozess gegen die bald gefassten Täter, ein junges Neonazi-Paar, ins Zentrum rückt, und in dem Katja als Nebenklägerin auftritt. Die Hoffnung, dass der Mord gesühnt wird, hält sie am Leben. Sie erträgt alles: die Gegenwart der schweigenden Angeklagten, den detaillierten Bericht der Gerichtsmedizinerin, die demütigenden Fragen des Verteidigers. Doch der Indizienprozess endet anders als erwartet. Katja verliert den Glauben an den Rechtsstaat und sorgt selbst für das, was in ihren Augen gerecht ist.
Es gibt keine Katharsis, wenn sich der Film zum Rachethriller entwickelt hat, aber jede Menge unbequeme Fragen. Akin hat „Aus dem Nichts“ als einen Film über eine Mutter und über die Trauer bezeichnet. Dem kann man zustimmen. Doch die Wut – sie ist da, sie ist sichtbar und sie bleibt.