Sekundenlang wabert die Schwarzblende zu den Chor-Gesängen von „Jesus Christus schwebt am Kreuze“ aus Schuberts „Stabat Mater“ auf der Leinwand, dann öffnet sich das Bild zu einer Nahaufnahme auf ein Organ, freigelegt von ins Fleisch schneidenden Wundhaken aus Stahl. Eine Operation am offenen Herzen unternimmt auch Yorgos Lanthimos, der in die Herzkammern der ältesten Mythen und Ängste vorstößt. Oder sie durchstößt, mitsamt der leisen Ahnung, dass all die zivilisatorischen Errungenschaften und das Streben nach Wissen und Perfektion gegen das Schwarz in der Welt nicht anleuchten kann. Steven heißt der Chirurgen-Halbgott in Weiß, der sich nach der OP in Zeitlupe die blutigen Handschuhe abstreift und sich mit seinem Anästhesisten über teure Armbanduhren austauscht: Leder- oder Metallband? Druckbeständig bis zu welcher Wassertiefe? Stevens Frau Anna ist klug, schön und leitende Oberärztin einer Augenklinik. Die Kinder, ein 14-jähriges Mädchen und ihr zwei Jahre jüngerer Bruder, haben die richtigen Hobbys und ein gehorsames Erscheinungsbild. Alles könnte so heimelig sein, in der Vorortvilla von Cincinnati, würde Lanthimos dieses Abziehbild einer Bilderbuchfamilie nicht so unheimlich verformen: Die Kamera zieht die durchschrittenen Gänge ins Weitwinkel-Format, verleiht ihnen albtraumhafte Unendlichkeit. Die mal unangenehm hoch, mal dunkel pochenden Streicherklänge von Cellist Siegfried Palm wechseln sich mit Dialogen ab, die so aufgesetzt heruntergeleiert klingen, dass sie nur von einer inneren Entfremdung zum Gesagten zeugen können. Da wird des Abends bei der schicken Ärzte-Party wie selbstverständlich hinausposaunt, dass die Tochter nun menstruiert. Im ehelichen Schlafzimmer spielt Anna Vollnarkose, damit Steven überhaupt noch eine Erektion bekommt. Dann wieder diese abrupt einbrechende Stille, die eine ganze Szene untergräbt. Es ist vor allem die Tonspur, mit der Lanthimos ein beständiges Unbehagen aufrechterhält und die für sich allein zu erzählen weiß, dass hier gar nichts in Ordnung ist. In ihrer perfekt durchchoreografierten Dysfunktionalität gleicht Stevens Familie den absurd entfremdeten Mikrokosmen, die Yorgos Lanthimos in „Dogtooth“ (2009) oder „The Lobster“ (fd 43 906) etablierte: in der perversen Familienisolation und in einer Welt, in der der Mensch nur in Zweierformation existieren darf, oder zum tierischen Dasein verdammt ist. Auch jetzt steckt Lanthimos seine Elternfiguren unter eine dicke, einlullende Decke der Selbstzufriedenheit, die nur darauf wartet, von außen aufgerissen zu werden. Das Skalpell dazu heißt Martin, der plötzlich da ist, von Steven eine Armbanduhr als eine Art Opfergabe geschenkt bekommt, sonst aber unter Verschluss gehalten werden muss. Ist dieser vaterlose Teenager mit dem unfertigen Gesicht ein uneheliches Kind von Steven, sein junger Liebhaber? Zumindest ist er ein Artefakt aus Stevens Vergangenheit, das immer aufdringlicher wird und sich so wenig abschütteln lässt wie das Gefühl einer zunehmenden Bedrohung. Aber Martin unterscheidet sich grundlegend von den sonstigen Eindringlingen des Psychothriller-Genres: Steven müsse sich für den Tod eines Familienmitglieds entscheiden, sonst würde er alle verlieren. So droht Martin in eiskalter Ruhe, als sich Steven, gestresst von den Lähmungserscheinungen seines kleinen Sohns, von ihm abzunabeln versucht: Schon längst hat er sich wie ein waberndes schwarzes Geschwür im Herzen der Familie eingenistet. Und der irreale Horror, der die ganze Zeit lauert, nimmt langsam und grausam Gestalt an. Wo das metaphysische Setting von „The Lobster“ widerspruchslos Realität war, stemmen sich die Figuren in „The Killing of a Sacred Deer“ noch gegen die fantastische Prämisse und ihre tragischen Konsequenzen an – erst mit medizinischen Analysen, dann mit Anna als Bittstellerin, zuletzt mit barbarischer Gewaltanwendung durch Steven. Umso größer die Allmachtfantasie des Mannes, seine Lügen und seine Fassade, umso tiefgreifender die Erosion. Steven ist ein „Hiob der Aufklärung“, der nicht von der Vernunft abfallen will, während ihm alles, was er liebt, von einer überirdischen Macht genommen wird. Er ist der hochtrabende Agamemnon, dessen Tötung eines heiligen Hirschs in der „Iphigenie“-Sage schwere Strafe nach sich zog. Steven hat sich gegenüber Martin schuldig gemacht. Gerechtigkeit muss hergestellt werden, das entbindet das Oberhaupt, das so viel Leid über seine Familie bringt, aber nicht von seiner Machtposition des Entscheiders über Leben und Tod. In einem fast schon aseptischen Setting entfaltet sich eine zutiefst moralische und zugleich zynisch bizarre Allegorie auf eine unterschwellig lodernde Gewalttätigkeit. An verstörende Szenen von Kubricks „Shining“ über „Eyes Wide Shut“ bis zu Hanekes „Funny Games“ dockt die Erzählung mit dem Ausmaß einer griechischen Tragödie an, die tief im gesellschaftlichen Kern der Familie wurzelt. In dieser ist die Stelle eines Märtyrers ausgeschrieben – eines Opfers, das die Sünden der Welt hinwegnimmt. Da hat sich Steven die Hände, die alle als perfekt beschreiben, schon längst zu blutig gemacht, um sein eigenes Herz noch in die Hand nehmen zu können.