Eine normale Wohnung, mehrere Zimmer, Küche, Bad, Balkon. Neun Menschen aus drei Generationen leben hier unter einem Dach, die Haushälterin Delhani und zwei Nachbarn zählen auch dazu. Eine Schrankwand, die auch in deutschen Wohnzimmern stehen könnte, signalisiert Behaglichkeit. Filmplakate im Kinderzimmer, eine Plastikente im Bad verweisen auf ein normales Leben. Einmal folgt die Kamera dem kleinen Jungen auf der Suche nach dem Großvater und durchmisst so die Wohnung: das Terrain ist abgesteckt. Denn dieses Heim ist zum Gefängnis geworden, das stets mit vorgeschobenen Balken sorgsam verriegelt wird. Das Verlassen der Wohnung kann tödlich sein, und darum ist sie in den nächsten 85 Minuten der einzige Handlungsort.
Diese Wohnung befindet sich in Damaskus. Während draußen der syrische Bürgerkrieg tobt, versucht Oum Yazan (intensiv dargestellt von Hiam Abbass) den Alltag aufrechtzuerhalten und so etwas wie ein Familienleben zu ermöglichen. Man versammelt sich mittags am großen Esstisch, redet gegen Bomben und Gewehrschüsse an. Während der Großvater mit dem Enkel spielt, flirtet die älteste Tochter mit ihrem Freund. Allerdings gibt es kaum noch Wasser und Gas, doch der Scharfschützen wegen verbietet sich jeder Gang vor die Tür. Der junge Nachbar versucht es trotzdem und wird vor den Augen Delhanis erschossen. Oder lebt er vielleicht noch? Muss man es nicht seiner Ehefrau Halima sagen? Doch Oum Yazan unterbindet jeden Versuch. Plötzlich sind Schritte in der Wohnung darüber zu hören, Stimmen und Geräusche. Dann klopfen fremde Männer, denen nicht zu trauen ist; sie suchen in zerstörten Gebäuden nach Wertgegenständen, die von den Bewohnern zurückgelassen wurden.
Irgendwann aber wird Oum Yazan die Tür öffnen müssen, um die Wirklichkeit hereinlassen.
Dem belgischen Regisseur Philippe Van Leeuw geht es nicht um die Diskussionen über Flüchtlinge oder die geopolitischen Verwicklungen im syrischen Bürgerkrieg; er verhandelt etwas ganz anderes. Sein Kammerspiel führt auf ebenso klaustrophobische wie beklemmende Weise vor Augen, welchem Terror die Bevölkerung in Syrien ausgesetzt ist. Der Film erörtert weder Kriegsparteien noch Kriegsgründe. Auch die Einbrecher, die zunächst sogar vorgeben, helfen zu wollen, verfolgen keine politischen Ziele, sondern sind nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Die Gewalt ist allgegenwärtig, aber nicht zu sehen, weil die unsichtbaren Heckenschützen ihren Opfern nicht gegenüberstehen. Das Dröhnen von Explosionen ist nur auf der Tonspur zu hören; Bilder der Zerstörung, wie man sie aus den Fernsehnachrichten kennt, gibt es hier nicht. Die Gewalt ist zwar auch eine körperliche, vor allem aber eine seelische. Wie soll man ein normales Leben führen, wenn man die alltägliche Versorgung mit Lebensmitteln und Energie für eine Großfamilie nicht gewährleisten kann und gleichzeitig ständig um sein Leben fürchten muss?
Die schiere Angst um das eigene Leben führt zu einem weiteren moralischen Konflikt, als die Einbrecher Halima vergewaltigen und niemand zu Hilfe eilt. Darf man das Wohl eines anderen opfern, um das Überleben der eigenen Familie zu sichern? Verwandelt der Krieg auch Unbeteiligte in Bestien, die nicht mehr solidarisch handeln können?
Aus diesem Dilemma gibt es keinen einfachen Ausweg und erst recht keinen, der Hoffnung macht.