Dokumentarfilm | Polen 2016 | 72 Minuten

Regie: Anna Zamecka

Eine 14-Jährige ist das Zentrum eines fragilen polnischen Familiengefüges, das ohne ihre disziplinierte Leitung schon längst auseinandergebrochen wäre. Während die Mutter abwesend ist und der Vater in seiner Alkoholsucht verwahrlost, besorgt das Mädchen den Haushalt und kümmert sich um seinen autistischen Bruder, dessen bevorstehende Kommunion den familiären Druck erhöht, der aber auch Anlass für Hoffnung ist: Von der Kommunionsfeier verspricht sich das Mädchen insgeheim die Zusammenführung der Familie. Im Direct-Cinema-Stil gedrehter Dokumentarfilm, der sich ganz auf die Beobachtung des Lebensalltags der Geschwister konzentriert und das bedrückende Bild eines Organismus zeichnet, der mit viel Anstrengung, aber auch mit Verbundenheit und Liebe am Leben gehalten wird. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
KOMUNIA
Produktionsland
Polen
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Wajda Studio/HBO Europe/Otter Films
Regie
Anna Zamecka
Buch
Anna Zamecka
Kamera
Malgorzata Szylak
Schnitt
Agnieszka Glinska · Anna Zamecka · Wojciech Janas
Länge
72 Minuten
Kinostart
04.05.2017
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Dokumentarischer Zutritt zu einem fragilen Familienkosmos, gedreht im Stile des Direct Cinema

Diskussion
Einmal trägt Ola ein T-Shirt mit der Aufschrift „Never Finish Anything“. Es klingt nach einer heimlichen Sehnsucht – oder nach einem bitteren Witz. Denn für pubertäre Verweigerungsgesten ist im Dasein des 14-jährigen Mädchens kein Platz. Ola ist das Gravitationszentrum eines fragilen Familiengefüges, das ohne ihre disziplinierte Leitung schon längst auseinandergebrochen wäre. Ola macht einfach alles: Sie kocht, putzt, wäscht und bügelt, sie sorgt dafür, dass der alkoholsüchtige Vater irgendwann die Kneipe verlässt und wieder nach Hause kommt, sie besorgt die Kommunikation mit dem Sozialarbeiter, schreibt Anträge. Und sie kümmert sich um ihren jüngeren autistischen Bruder Nikodem. Jeden Morgen packt sie ihm den Schulranzen und überprüft seine Hefte. Manchmal muss Ola dabei eine Seite mit provokanten, bizarren oder auch blasphemischen Inhalten herausreißen: „Wir wollen hier keine Mongos haben“, steht da beispielsweise. Und: „Als Jesus geboren wurde, waren die Dinosaurier die Dinosaurier“. Oder: „Das Ende von Jesus“. Die polnische Filmemacherin Anna Zemecka gewährt in ihrem erstaunlichen Langfilmdebüt mit den Mitteln des „direct cinema“ Zutritt zu einem außergewöhnlichen familiären Mikrokosmos. Die Wohnung, Hauptschauplatz in „Kommunion“, ist eng, düster und mit Dingen vollgestellt; schwere Tapeten, Vorhänge und abgewohnte Einrichtungsgegenstände bestimmen das Bild. Die Bewohner der dunklen Höhle: Ola, Nikodem und ihr Vater – ein Organismus, der mit viel Anstrengung, aber auch Verbundenheit und Liebe am Leben gehalten wird. Immer wieder gerät der eingespielte Mechanismus aus dem Takt und es kommt zu Ausbrüchen von Verzweiflung und Wut. Als Ola einmal die Wohnung in erheblicher Unordnung auffindet, bricht sie in Tränen aus: „Gibt es irgendetwas Normales?“, fragt sie weinend, während sie den Abwasch macht. Dramaturgisch sortiert Zemecka ihre Alltagsbeobachtung um ein Initiationsereignis, das in der polnischen Gesellschaft auch heute noch von großer Bedeutung ist: die Kommunion. Nikodems Lernerei für die mündliche Prüfung erhöht den Druck in der Familie. Was sind die Gebote, was sind die Tugenden, was ist die heilige Dreifaltigkeit? Ola übt mit ihrem Bruder den Rosenkranz und mit Hilfe von Bananenscheiben, wie man die Hostie richtig entgegennimmt. Auch Nikodem ist der Stress anzumerken: Auf die schwesterliche Kontrolle und das Regime religiöser Verbote und Strafszenarien („Wen Gott liebt, den peitscht er“) antwortet er mit unkontrolliert wedelnden Armbewegungen, verstellter Stimme und ungewollt kreativem Output („Ich bin Halb-Gott“, flüstert er in der Kirche ins Mikro). Auch für Ola steht mit der Kommunion viel auf dem Spiel: Sie erträumt sich insgeheim einen Familienzusammenführungsplot. Als die Mutter, die nur in Telefongesprächen anwesend ist, ihr Erscheinen zur Kommunionsfeier ankündigt, spekuliert Ola darauf, dass sie in die gemeinsame Wohnung zurückkehrt. Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllt. So nahe, so unmittelbar an Figuren, Objekten und Räumen war man selten in einem Dokumentarfilm mit einer Familienthematik. Die Kamera leistet dabei weit mehr als die Aufgabe der teilnehmenden Beobachtung: Sie ist wie ein viertes Mitglied in das Gefüge integriert. So bedrückend das Szenario in „Kommunion“ auch ist: Es drückt nicht nur. Die unbändige Lebenskraft und Energie der Geschwister versetzen einen immer wieder in Erstaunen und erwecken Bewunderung. Was diese Potenziale unter anderen Bedingungen freizusetzen vermögen, sieht man etwa beim Besuch einer Nachmittagsdisco: Unter allen Mädchen singt und tanzt Ola am entfesseltsten; der etwas verklemmt wirkenden Jungsgruppe gegenüber reckt sie den Arm und ruft: „Revanche!“
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