Ein Hochzeitsvideo verlangt nicht viel: Ein Lächeln, ein paar ermutigende Worte der Gratulation. An sich keine große Sache, zumal Victoria als Anwältin Auftritte in der Öffentlichkeit gewohnt ist. Doch hier scheitert sie an der Aufgabe, spontan und locker rüberzukommen, wirkt verkrampft und verhaspelt sich ein ums andere Mal. Die Enddreißigerin kann nicht verbergen, dass sie in einer Krise steckt. Ihr Ex-Mann zahlt keinen Unterhalt mehr, die beiden kleinen Töchter bekommt sie vor lauter Arbeit kaum noch zu sehen, der Babysitter hat gerade wegen Überlastung gekündigt. Psychiater und Hellseherin hat sie schon konsultiert, bislang aber ohne Erfolg.
Die Hochzeit im erweiterten Freundeskreis soll deshalb ablenken, doch Victoria kann sich nicht entspannen. Was nicht allein an ihren Sorgen liegt, sondern auch an unerwarteten alten Bekannten. Vincent, ein Freund aus lange vergangenen Tagen, beklagt sich bei Victoria über seine aktuelle Partnerin Eve, der milchgesichtige Nickelbrillenträger Sam spricht sie als ehemaliger Klient an. Nach alldem wundert es nicht, dass die Hochzeitsfeier im Desaster endet: Eve muss wegen einer Messerwunde medizinisch versorgt werden, Vincent wird als angeblicher Angreifer festgenommen. Und Victoria flattert mit der Verteidigung ihres unberechenbaren Ex-Freundes ein neues Problem ins Haus.
Die französische Regisseurin Justine Triet setzt bei ihrem zweiten Spielfilm an einem ähnlichen Punkt ein wie beim Erstling „Der Präsident und meine Kinder“ (2013). Erneut ist ihre Hauptfigur eine alleinerziehende Mutter, deren chaotisches Privatleben ihre gute berufliche Stellung gefährdet. Im Debüt führte dies noch zur Studie einer Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs, angesichts eines Ex-Partners, der ausgerechnet an dem Tag Sorgerechtsfragen klären will, an dem sie als Journalistin mit der Präsidentschaftswahl ausgelastet ist. Gegenüber dem mitunter anstrengenden Realismus des Erstlings kommt „Victoria“ von Anfang an leichter daher und gibt sich schon durch das Motiv der entgleisenden Hochzeit als romantische Komödie zu erkennen. Die liebenswert neurotische Protagonistin ist an US-amerikanischen Vorbildern geschult, ebenso wie der auf Wortwitz und leicht schräge Nebenfiguren setzende Humor auf die typischen Farce- und Slapstick-Elemente französischer Komödien verzichtet.
Triet erzielt dabei eine beachtliche Trefferquote an köstlichen Einfällen. Zum Running Gag wird vor allem die Rastlosigkeit von Victoria, die ihrer Arbeit grundsätzlich inmitten einer Schar menschlicher Störquellen nachgehen muss. Insbesondere ein Männertrio macht ihr das Leben schwer: Vincent nervt mit der Frage, wie er sich vor Gericht am besten präsentieren soll. Victorias Ex-Mann David breitet in einem Blog Details über sie und ihre Klienten aus und findet mit seiner Schmähprosa auch noch Leser. Am hilfreichsten ist noch Sam, der sich als „Jungchen für alles“ aufdrängt, fortan auf dem Sofa schläft und die wechselnden Besucher in Victorias Schlafzimmer mit einem unmissverständlichen „Ich urteile nicht“ kommentiert. Dass er selbst Gefühle für seine Arbeitgeberin entwickelt, dringt dabei erst allmählich zu ihr durch.
Sind diese Figuren überzogen, ist die Welt der Juristen dafür mit weit mehr Authentizität dargestellt, als es Arbeitssphären in romantischen Komödien üblicherweise widerfährt. Die Verwicklungen, die ein zu nahes Verhältnis zwischen Anwältin und Klient bedeuten kann, oder die negativen Folgen eines Kontakts mit einer Zeugin werden von der Inszenierung durchaus realistisch miteingebracht, während sich der eigentliche Prozess mit absurden Momenten bewusst von ernsten Gerichtsfilmen abhebt.
Der Gefahr, an dieser Stelle zur bloßen Variation von Fernsehserien wie „Ally McBeal“ oder „Danni Lowinski“ zu werden, entgeht „Victoria“ durch die existenzielle Dringlichkeit in der Zeichnung der Hauptfigur. Zeitweise muss man sich ernsthafte Sorgen machen, ob Victoria nicht an dem Dauerstress zerbrechen wird. Das liegt insbesondere an der großartigen Hauptdarstellerin Virginie Efira, die zuletzt in Filmen wie „Birnenkuchen mit Lavendel“
(fd 43 742) ein wenig oft auf ihre Schönheit und ihre sympathische Ausstrahlung reduziert wurde. Hier darf sie eine verletzliche Seite zeigen, durch die man als Zuschauer ebenso um sie bangt wie man sie für ihre liebenswürdigen Eigenschaften ins Herz schließt. Gekonnt wechselt der Film so bis zum Schluss zwischen Komödie und Drama, ohne dass die bemerkenswert selbstsichere Regisseurin dabei je ausgleiten würde. Eine reife Leistung.