Der Marathon von Boston zählt zu den prestigeträchtigsten und beliebtesten Langstreckenrennen der Welt. Eine Herausforderung für die Läufer, die bereits für die Qualifikation schneller sein müssen als anderswo, ein Fest für Hunderttausende Zuschauer, die die Wegstrecke säumen. Das Attentat am 15. April 2013, bei dem drei Menschen starben und fast 300 verletzt wurden, war ein Schock und hat sich tief in die kollektive Erinnerung der US-Amerikaner eingegraben. Eine Bluttat, die einmal mehr die Verwundbarkeit des Landes aufzeigte, aber auch den Zusammenhalt der Menschen stärkte.
Regisseur Peter Berg, der mit „Deepwater Horizon“
(fd 44 314) eine andere von Menschen verantwortete Katastrophe aufarbeitete, stellt das Attentat als eine Mischung aus rasanter Action, spannendem Thriller und menschlichem Drama nach. Über einen Zeitraum von vier Tagen hinweg entwirft er einen detaillierten Ablauf der Geschehnisse, die wenige Stunden vor dem Startschuss beginnen. Der Film erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven: aus der Sicht der Überlebenden, der ermittelnden Polizisten und Opfer. Schrifttafeln, die über Ort, Zeit und gelegentlich über Personen Auskunft geben, interpunktieren das Geschehen. Das verleiht dem Film eine dokumentarische Genauigkeit, die den Faktor Zeit als wesentliches Spannungsmoment der Erzählung etabliert.
Unter den Figuren, zwischen denen der erzählerische Fokus wechselt, kristallisiert sich rasch die Figur von Police Sergeant Tommy Saunders heraus. Ausgerechnet er soll heute, angetan mit einer leuchtend gelben Weste, die ihn wie einen Schülerlotsen aussehen lässt, im Zieleinlauf des Marathons für Ordnung sorgen – trotz großer Knieschmerzen. Dann ereignet sich plötzlich eine Explosion, wenige Sekunden später eine zweite. Peter Berg beherrscht wie schon in „Deepwater Horizon“ diese Szenen der Zerstörung perfekt. Rasant, mit agiler, fast schon ruheloser Kamera fängt er das Durcheinander nach den Detonationen ein: Blut, Lärm, Sirenengeheul, abgetrennte Gliedmaßnahmen, flüchtende Menschen und heranbrausende Krankenwagen. Die Panik und das Chaos, die an diesem Tag in Boston herrschten, teilen sich unmittelbar mit.
Saunders macht sich an die Arbeit, spricht mit Opfern und Zeugen, konferiert mit Kollegen und dem FBI und ist Teil des Kommandozentrums, das in einem alten Lagerhaus errichtet wird. Mark Wahlberg, der nach „Lone Survivor“
(fd 42 246) und „Deepwater Horizon“ zum dritten Mal unter der Regie von Peter Berg spielt, interpretiert den Sergeant vielleicht nicht so intensiv und kantig wie sonst, was allerdings an der vom Drehbuch konzipierten Figur liegt: Saunders ist ein Jedermann, verheiratet, mit alltäglichen Problemen, der plötzlich über sich hinauswachsen muss. In einer packenden Szene überlegt der Polizist, der sich über ein Modell der Straße beugt, fieberhaft, wo überall Überwachungskameras aufgestellt sein könnten. Jemand ruft den Namen einer Kreuzung oder eines Geschäftes, und schon sieht man, was die Kamera dort aufgenommen hat. Allgegenwart und Unmittelbarkeit der Bilder gehören zur Spannungsdramaturgie des Films.
Alternierend lenkt der Film das Augenmerk aber auch auf die Opfer, etwa ein verheiratetes Paar, einen Sicherheitsbeamten der Universität, der seine Waffe nicht herausrücken will, oder einen chinesischen Web-Designer, dem die flüchtenden Attentäter, die Brüder Tamerlan und Dzhokhar Tsanaev, in einer der packendsten und intensivsten Szenen das Auto stehlen. Bei der Verfolgung der Täter entwickelt sich „Boston“ zum Spannungskino, mit viel Action im Vordergrund.
Am Schluss treten authentische Beteiligte vor die Kamera, Opfer, Polizisten, Politiker, und sprechen darüber, wie sehr das Attentat die Menschen zusammengebracht hat. Auch Bezüge zu den Anschlägen in Paris, Brüssel und Nizza werden hergestellt. „Boston“ setzt den Einwohnern der Stadt ein filmisches Denkmal, manchmal etwa zu pathetisch, doch in der Essenz klar und deutlich: Die terroristische Bedrohung ist international, man kann ihr nur gemeinsam begegnen. Deshalb ist auf zahlreichen Aufklebern, T-Shirts und Postern die Solidaritätsbotschaft zu lesen: „Boston Strong“, „Boston ist stark“.