Eine französische Großindustriellen-Familie verbringt 1910 ihren Sommerurlaub an der nordfranzösischen Küste. Als sich der Sohn eines Fischers in ein junges Mitglied der Adelssippe verliebt, muss diese widerwillig mit der unterprivilegierten Familie verkehren. Zudem sorgt eine Serie spurlos verschwundener Sommergäste für Aufregung, worin die Fischerfamilie verwickelt zu sein scheint. Eine von Einfällen überquellende Farce, die vor allem in der grotesken Personenzeichnung übers Ziel hinausschießt. Überlang, mitunter roh und in seiner Kapitalismus-Kritik eher plump, beeindruckt der Film vorrangig als versierte Hommage an die Kinogeschichte. (Schweizer Kinotitel: "Ma loute")
- Ab 16.
Die feine Gesellschaft
Komödie | Frankreich/Deutschland 2016 | 123 Minuten
Regie: Bruno Dumont
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Filmdaten
- Originaltitel
- MA LOUTE
- Produktionsland
- Frankreich/Deutschland
- Produktionsjahr
- 2016
- Produktionsfirma
- 3B Prod./Twenty Twenty Vision/Pallas Film/Arte France Cinéma/WDR/arte
- Regie
- Bruno Dumont
- Buch
- Bruno Dumont
- Kamera
- Guillaume Deffontaines
- Schnitt
- Bruno Dumont · Basile Belkhiri
- Darsteller
- Fabrice Luchini (André van Peteghem) · Valeria Bruni Tedeschi (Isabelle van Peteghem) · Juliette Binoche (Aude van Peteghem) · Jean-Luc Vincent (Christian van Peteghem) · Brandon Lavieville (Lümmel Rohbrecht)
- Länge
- 123 Minuten
- Kinostart
- 26.01.2017
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Komödie
- Externe Links
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Heimkino
Kino-Hommage voller grotesker Einfälle
Diskussion
Die Gesichter des Fischers und seiner Söhne sind so zerfurcht und abgeschliffen wie die Felsen, von denen sie mühsam die Muscheln loskratzen. Ein Bild des Elends, inmitten einer sommerlichen Kulisse, die man ansonsten uneingeschränkt schön nennen könnte: Himmel und Meer strahlen in Hellblau, der raue Charme der Küste nahe Calais entfaltet sich in prachtvollen CinemaScope-Aufnahmen. Von diesem Gegensatz aus könnte es weitergehen wie in den früheren Filmen des französischen Regisseurs Bruno Dumont, der mit Werken wie „L’Humanité“ (fd 34 181) formvollendete Studien in Trostlosigkeit geschaffen hat, ästhetisch streng und ohne jede Hoffnung auf Erlösung.
Doch diesmal liegt ein anderer Tonfall in der Luft. Auf ihrem Heimweg begegnen die Fischer einer zweiten Familie: Die adligen van Peteghems sind Großindustrielle auf Sommerurlaub und wissen, womit sich im Jahr 1910 Staat machen lässt. Vater André chauffiert eines der ersten Automobile, Mutter Isabelle blickt wie durch das Auge eines impressionistischen Malers auf die Welt. Ihr euphorisches Gehabe beim Anblick der Fischer ist ein erster Hinweis, dass Bruno Dumont wie in seiner Miniserie „KindKind“ (2014) einmal mehr nicht auf heiligen Ernst aus ist. Anderswo in den Dünen mühen sich Polizisten mit Fällen verschwundener Sommergäste ab, angeführt von einem Inspektor mit grotesker Leibesfülle und seinem schmächtigen Assistenten. Beide sind als Hommage an Laurel & Hardy erkennbar und werden mit einem köstlichen Einfall eingeführt: Der dicke Inspektor rollt fassartig den Sandhügel hinunter, statt zu Fuß zu gehen, auch wenn er anschließend nur mit vereinten Kräften wieder aufgerichtet werden kann.
Statt auf die asketische Tradition eines Robert Bresson bezieht sich Dumont offenkundig auf die komödiantische Kinogeschichte, angefangen beim Stummfilm-Slapstick. Genauso lässt sich aber auch Jacques Tati als Vorbild erkennen. Das betrifft die einfallsreiche Geräusch-Komik des Films – der Inspektor kann beispielsweise keinen Schritt tun, ohne dass sein Körper quietscht und ächzt –, aber auch die beständige Tücke des Objekts, mit der vor allem die van Peteghems konfrontiert sind. Ihre prominenten Darsteller geben sich dabei dem hemmungslosen Chargieren hin: Fabrice Luchini mimt mit Buckel und unnachahmlich leerem Gesichtsausdruck das überforderte Familienoberhaupt, Valeria Bruni Tedeschi seine brettsteife und überkandidelte Gattin, Juliette Binoche als Andrés Schwester Aude tritt wie ein schnatternder Paradiesvogel auf.
Mit dieser Personenzeichnung schießt Dumont allerdings immer wieder übers Ziel hinaus, zumal die arme Fischerfamilie Brufort kein Kontrast zu den dekadenten, inzestuös verbandelten Reichen ist, sondern ähnlich überzogen gezeichnet. Alles, was seit „Willkommen bei den Sch’tis“ (fd 38 956) an Klischees über die primitiven Nordfranzosen vertraut ist, trifft auf die Bruforts zu, und noch weit mehr: Die Fischer ernähren sich nicht nur vom Trinkgeld der Sommergäste, sondern auch buchstäblich von ihnen – woher die Fälle der spurlos Verschwundenen in der Umgebung rühren.
Mit dieser drastischen Enthüllung wartet Dumont recht bald auf. Für die Handlung gibt die fruchtlose Ermittlung der Polizisten daher ebenso wenig her wie die auf Episoden und Tableaus ausgelegte Komik. Eine dramatische Entwicklung tut sich nur in einer Romanze auf, die sich zwischen dem ältesten Brufort-Sohn und Billie, einem jugendlichen Abkömmling der Adelsfamilie, entspinnt. Dass dieser sich mal in Frauen- und mal in Männerkleidern zeigt, versetzt den jungen Fischer in Verwirrung – was sich durch die raffiniert androgyne Inszenierung von Billie auch auf den Zuschauer überträgt. Immerhin erweist sich die Beziehung als so aufrichtig, dass sie einen kurzzeitigen Kontakt zwischen den gesellschaftlichen Klassen ermöglicht, der durch den Dünkel der Reichen sonst gänzlich außer Frage steht.
Dumont macht kein Geheimnis daraus, dass er auch auf eine explizite Kapitalismus-Kritik abzielt, doch erweist sich diese intendierte Deutung als recht schwach. Zum einen ist Kannibalismus als Rache der Ausgebeuteten ein reichlich ausgelutschtes Schockelement, das im Kino bis zu Jean-Luc Godards „Weekend“ (fd 15 922) und Nelson Pereira dos Santos’ „Mein kleiner Franzose war sehr lecker“ (1971) zurückreicht. Zum anderen sind in „Die feine Gesellschaft“ beide Familien ähnlich monströs, sodass sich auch für die Unterprivilegierten keine Sympathie einstellt. Lohnender erscheint es, den ideologischen Ballast des Films zu ignorieren und sich ganz Dumonts Hommage an die Möglichkeiten des Kinos hinzugeben. Die hat zwar durchaus ihre Längen und weniger gelungenen Einfälle, hebt aber immer wieder auch aufs Hinreißendste ab.
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