Vor der belgischen Grenze fängt der Nordpol an. Die Provinz Nord-Pas-de-Calais gilt den übrigen Franzosen als No-Go-Area, deren Bevölkerung sich aus erbarmungswürdigen Spinnern und Alkoholikern zusammensetzt. Die „Sch’tis“ verdanken ihren Spitznamen einem im übrigen Frankreich angeblich unverständlichen Dialekt, der in Dany Boons munterer Komödie um binnennationale Klischeebarrieren allerdings kräftig überzeichnet wird. In der deutschen Synchronisation spricht Christoph Maria Herbst die Eingeborenen-Rolle Dany Boons in einem Kunstdialekt, der an die Averner in dem Asterix-Klassiker erinnert.
Für Philippe Abrams, der mit Frau Julie und Söhnchen in der Provence wohnt, steht außer Frage, dass Nord-Pas-de-Calais der letzte Fleck auf Erden ist, an dem er leben möchte. „Ich will nicht in die Antarktis“, klagt auch der Kleine. Doch Philippe, Vorsteher eines Postamts, wird ausgerechnet dorthin strafversetzt. Weil er seiner gemütslabilen Gattin die Côte d’Azur versprochen hat und ihr das finstere Gegenteil fürs Erste nicht zumuten mag, macht er sich zunächst alleine in den Norden auf. Alle Vorurteile scheinen sich zu bewahrheiten. Kaum ist Philippe am Autobahnschild „Bienvenue en Région Pas-de-Calais“ vorbeigefahren, prasselt ein Dauerregen auf die Windschutzscheibe. Im wolkenverhangenen Städtchen Bergues läuft ihm ein Einheimischer vors Auto, dessen dialektales Genuschel Philippe auf einen mittelschweren Kieferbruch zurückführt. Doch hier sprechen alle so, dies ist das Land der Sch’tis. Das in Wahrheit unverletzte Unfallopfer entpuppt sich als einer von Philippes zukünftigen Angestellten: eine überraschend muntere Truppe, die dem Südländer in den kommenden Wochen dazu verhilft, mit seiner neuen Heimat warm zu werden. „Ein Fremder, der in den Norden kommt, weint zweimal“, wissen die Sch’tis, „wenn er ankommt und wenn er wieder fährt.“ Warum es am Eurotunnel so schön ist, realisiert der Neuankömmling erst peu à peu, beim Abendessen in der Altstadt von Lille und beim Strandsegeln mit Antoine. Nur Philippes Frau darf über die Vorzüge des Nordens auf keinen Fall aufgeklärt werden. Sie kümmert sich an den gemeinsamen Wochenenden in der Provence so rührend um den vermeintlichen Märtyrer, wie es Philippe in all den Ehejahren nicht erlebt hat.
Dany Boon, der neben Konzeption und Regie auch die Rolle des Briefträgers Antoine übernommen hat, stammt selbst aus der Region Nord-Pas-de-Calais. Das Vorhaben, seine Heimat aus dem mit Armut, Verzweiflung und Arbeitslosigkeit verbundenen Negativ-Image herauszuholen, ist zumindest in Frankreich aufgegangen. „Bienvenue chez les Ch’tis“ brach dort mit über 20 Mio. Kinobesuchern alle Zuschauerrekorde und soll als Hollywood-Remake „Welcome to the Sticks“ 2010 auch in den USA für den Abbau von Vorurteilen werben. Remake statt Synchronisation: so machen das die Amerikaner. In Deutschland wäre eine vergleichbare Totalübersetzung nach dem Modell „Ein Münchner in Ostfriesland“ eine grausige Vorstellung; andererseits leidet der ursprüngliche Lokalkolorit unter der eher angestrengt eingedeutschten Tonspur. Allerdings setzt schon das französische Original allzu oft auf einen wenig subtilen Humor, auf dass der Brückenschlag zwischen Nord und Süd auch überall ankomme. Zu den eher bemühten Einlagen gehört das Theater, dass die Postler ihrem Chef zuliebe in einer verlassenen Bergbau-Siedlung inszenieren, vor deren Ortseingang sie das Schild „Bergues“ pflanzen. Philippes Ehefrau kreuzt nämlich im Norden auf, um ihrem Mann doch beizustehen. Im falschen Bergues kriechen kohlegeschwärzte Kumpels herum, die vom Ende des Bergbaus nichts wissen; dort werden Katzen gegrillt und Bierflaschen im Sekundentakt geleert. Abgesehen von solchen Klischees, die durch Drehbuch-Plattitüden keineswegs witziger werden, beweist Boon ein glückliches Händchen bei der Besetzung. Er selbst kreiert den verliebten Provinzler und Hobbyglöckner Antoine mit Sympathie und Schalk. Line Renaud brilliert als Antoines argusäugige Mutter, die ihrem Sohn die Wiederannäherung an die Exfreundin und Kollegin Annabelle (sprühend: Anne Marivin) erschwert. Kad Merad schließlich punktet als „Fremdenlegionär“ Philippe schon in seiner ersten Slapstick-Szene, in der er als Schein-Invalide mit Versetzungswunsch Riviera an einem klappbaren Rollstuhl scheitert. Zwei „Galeerenjahre“ später darf er mit Familie dann doch in den Süden ziehen. „Ich wein’ ja gar nicht“, sagt Philippe beim Abschied. „Doch“, bemerkt Antoine, „Du weinscht“.