Sich in einen Jungen verwandeln zu lassen, stellt ein Mädchen vor große Probleme. Zumal wenn es erst 16 Jahre alt ist und in einem Frauenhaushalt lebt, der aus einem lesbischen Großelternpaar und einer neurotischen, alleinerziehenden Mutter besteht. Kann das frauenbewegte Trio den Wunsch überhaupt verstehen? Könnte es das jüngste Familienmitglied bei der Verwirklichung seiner Träume überhaupt unterstützen? Und wie erhält das minderjährige Mädchen die schriftliche Erlaubnis des Vaters? Wo ihn die Mutter doch seit Kindheitstagen aus beider Leben verbannt hat.
Nicht einmal seinen Aufenthaltsort kennt sie, obwohl der pflichtbewusste Vater für sein Kind immer Unterhalt gezahlt hat. Da Mutter Maggie ihr eigenes Einverständnis vor sich herschiebt und ihr die Einholung der väterlichen Unterschrift bislang misslingt, macht sich Tochter Ray schließlich selbst zu dem ihr unbekannten Mann auf. So platzt sie in den Alltag einer traditionellen Familie, die in einem geschmackvoll-geräumigen Haus im Grünen lebt.
Folgt man den Gedankengängen dieser unterhaltsamen Transgender-Tragikomödie von Gaby Dellal, sehen sich gerade emanzipierte Frauen von einer Geschlechtsumwandlung ihrer Töchter bedroht. Sie scheinen diesen Wunsch als Kampfansage gegen ihre Selbstbestimmung zu interpretieren. Als würden sie mit der Billigung solcher Ambitionen vor dem Patriarchat in die Knie gehen. Andererseits hätten die vier Protagonistinnen danach die Anwesenheit eines Mannes bitter nötig. Denn dann geht es plötzlich auch um die Defizite moderner Lebensentwürfe, um das häufig behandelte Motiv der Vatersuche. Denn in klassisch psychologischer Lesart fehlt es in dem weiblich geführten Haus an einer trennenden, männlichen Instanz. Deshalb ringen die bekennende Lesbe Dolly und ihre alleinlebende Tochter Maggie vergeblich um Autonomie.
Die Schauspielerin Susan Sarandon hat an der Rolle der lebensklugen, überfürsorglichen, grenzüberschreitenden Mutter offenbar Gefallen gefunden, zuletzt mimte sie diesen entnervenden, aber auch liebeswürdigen Typus in Lorene Scafarias „Mit besten Absichten“
(fd 44 024). In „Alle Farben des Lebens“ hält sie mit ihrer Meinung ebenso wenig hinterm Berg. Mit bissigen Bemerkungen und trockenem Humor mischt sie sich in die Angelegenheiten ihrer Tochter ein. Doch so verhindert sie deren Emanzipation. Dolly lässt selbst ja nicht los. Wie soll da Maggie ihr Leben in die Hand nehmen, ihrem alten Zuhause den Rücken kehren?
Den Wunsch der Enkelin, sich von dem „falschen“ weiblichen Körper zu lösen, muss man also zugleich sinnbildlich als Maggies Wunsch verstehen, sich von ihrer übermächtigen Mutter, von Rays Großmutter Dolly, zu lösen. Der weibliche Kampf um die Autonomie wird als generationenspezifischer gezeigt. Die Großmutter verkörpert die politisierte, frauenbewegte Generation Ende der 1960er-Jahre, die auch die Verfügungsgewalt über den eigenen Körper beanspruchte, während ihre Tochter in diesem Selbstverständnis bereits großgezogen wurde und ganz selbstverständlich die errungenen, besonders auch sexuellen Freiheiten in Anspruch nahm. Die dritte Generation fällt in die traditionellen Rollenmuster zurück, macht Selbstbestimmung am biologischen Geschlecht fest.
Die weibliche Identitätsproblematik wird im Bild durch die vielfach auftauchenden Spiegel reflektiert. Immer wieder muss sich Enkelin Ray vor solch einer glatten Fläche selbst befragen, ihr bislang „falsches“ Äußeres hinnehmen, sich zugleich ihres positiven Selbstbildes versichern, denn es gibt bisher keinen Anderen, der sie darin bestätigt.
Wenn sich ihr irgendwann der Vater als künftiges „Role Model“ anbietet, dann setzt der Film – ganz anders als Lisa Cholodenkos „The Kids Are All Right“
(fd 40 149), in dem ein lesbisches Paar als Identifikationsfigur genügt und keine Männer als bereichernde Elemente braucht – wieder auf die traditionelle Konstellation. Ein Junge braucht danach für eine gelungene Identitätsbildung nun mal einen Mann. Und wenn Ray nach einer Narbe sucht, weil ihr angeblich etwas fehlt, dann ist das eine Anspielung auf den Freudschen Begriff der Kastration, womit der Film das weibliche Geschlecht wieder einmal in die zweite Reihe verweist.
Was es aber nun genau heißt, wie ein Junge zu sein, sich als Junge fühlen zu wollen, das wird durch die oberflächliche Modellierung der Figur nicht klar. Der Film gibt nur flüchtige Einblicke, bemüht zumeist Klischees, um den Alltag der Tochter und die von ihr ersehnte Existenzweise zu bebildern. Deren Freiheit erschöpft sich hoffentlich nicht in Medienaffinität und in Skateboardfahren durch die Großstadt New York, in Zeitlupe, in subjektiven Einstellungen und Großaufnahmen.