Reflexionen über ein wenig bekanntes Kapitel europäischer Geschichte: Nachdem in Deutschland die Nazis an die Macht kamen, nahm die Türkei mehrere hundert dort entlassene Wissenschaftler auf. Sie gestalteten in Ankara und Istanbul eine zeitgemäße Universitätslandschaft. Die deutsch-türkische Filmemacherin Eren Önsöz begleitet fünf Töchter und Söhne dieser Wissenschaftler bei der Spurensuche. Fünf Kulturmittler zwischen zwei Heimaten, Sehnsucht und der Angst vor einem neuerlichen Verlust politischer und gesellschaftlicher Freiheiten.
Der Germanismus „haymatloz“ ging bereits in den 1930er-Jahren in die türkische Sprache ein. Die Migranten, die damals hier ankamen, waren hochgebildete Wissenschaftler. Einer von ihnen, Philipp Schwartz, gründete 1933 die „Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland“. Mitglieder waren vor allem jüdische Wissenschaftler, die vor den Nazis fliehen mussten. Kemal Atatürk, der seinem Land einen beispiellosen Modernisierungs- und Bildungsschub auferlegte, lud Schwartz in die Türkei ein, um für die Gründung eines modernen Wissenschaftsbetriebs zu werben. „Wir können unsere Jugend nicht nach Europa schicken, aber wir wollen, und können, hier eine europäische Universität aufbauen“, teilte ihm der türkische Staatspräsident mit, dem es darum ging, einen laizistischen Staat nach europäischem Vorbild zu formen. „Man teilte uns mit, dass man von uns Wunder erwartete“, erinnerte sich der Pathologe später.
Zu den bekanntesten Migranten, die die Nazi-Zeit im türkischen Exil überlebten, gehörten der Politiker und spätere West-Berliner Bürgermeister Ernst Reuter, Architekten wie Bruno Taut und Martin Elsässer, deren sachliche Repräsentationsarchitektur Gebäude wie die Sümer-Bank und das Atatürk-Gymnasium in Ankara prägen, der Komponist Paul Hindemith, der Bildhauer Rudolf Belling.
Önsöz, die mit ihrem ersten Dokumentarfilm „Import – Export“ schon einmal ein deutsch-türkisches Thema bearbeitete, begleitet fünf Kinder der damaligen Migranten auf ihren Reisen zwischen Deutschland bzw. der Schweiz und der Türkei. Die Väter arbeiteten als Professoren an den neu gegründeten Uni-Fachbereichen in Ankara und Istanbul und heirateten dort. Ihre Kinder teilen die Sehnsucht nach der Türkei, die ihre Eltern vor dem sicheren Tod rettete, aber alle sind auch „in Deutschland die Türken und in der Türkei die Deutschen“.
Migrantenschicksale andersrum – Kurt Heilbronn, Engin Bagda und Enver Hirsch leben und arbeiten in beiden Ländern, Susan Ferenz-Schwartz und Elisabeth Weber-Belling kämpfen noch immer um den Nachlass und das Erbe ihrer Väter. Mit der Vertreibung aus Deutschland wurden beide Namen nachhaltig aus dem historischen Bewusstsein getilgt: Schwartz wurde nach 1945 die Rückkehr an die Universität in Frankfurt/Main verweigert, und Bellings Werk wird in Mitteleuropa noch immer zu wenig wahrgenommen. Wie auch die erwähnten Bauten deutschstämmiger Architekten, mit deren Hilfe Ankara in den 1930er-Jahren zur neuen Hauptstadt der Türkei mit beeindruckender modernistischer Fassade aufgebaut wurde.
Es sind nicht nur die Berichte über die Vorteile und Nöte des Pendelns zwischen mehreren Kulturen, die Önsöz‘ mit leichter Hand inszenierten Film über diese deutsch-türkisch-jüdisch-säkularen Lebenswege so sehenswert machen. Die Regisseurin begleitet ihre ProtagonistInnen bei ihren emotionalen, von Kindheitserinnerungen geprägten Spaziergängen über den Taksim-Platz und durch den Gezi-Park genauso wie bei ihren klugen Reflexionen über die gesellschaftliche Modernisierung vor 80 Jahren und deren aktuellen Rückbau. „Haymatloz“ verweist auf eine vergessene Episode europäischer Geschichte und wirft damit ein Licht auf die Tradition der Türkei als Exilland. Gleichzeitig verweist der Film auf die Sorgen um die demokratischen Standards in der Türkei und plädiert anhand der Lebensgeschichten der ProtagonistInnen und ihrer Eltern dafür, die derzeitigen politischen Entwicklungen in der Türkei als das zu begreifen, was sie sind: ein wesentlicher Paradigmenwechsel nicht am Rande, sondern in der Mitte von Europas politischer Kultur.