Karsten Böhm hat es geschafft: Der junge Mann aus gutem Haus hat einen sicheren und verantwortungsvollen Job in einer Bank, ist mit der schönen Laura liiert und wird von einer lebendigen Clique aufgefangen. Die Kleinstadt, in der er lebt, Altena im Sauerland, strahlt Gemütlichkeit und Schutz aus. Hier passiert nichts Aufregendes oder Gefährliches. Umso unvorbereiteter ist Karsten für das, was dann passiert. In seiner Wohnung hat er eine Party gefeiert. Alle Gäste sind bereits gegangen – bis auf Anna. Karsten ist fasziniert von der geheimnisvollen jungen Frau, die er allerdings gar nicht eingeladen hat. Scheinbar ist sie zusammen mit anderen gekommen. Doch plötzlich bricht Anna tot zusammen. Anstatt einen Notarzt zu rufen, läuft Karsten in Panik zur Ambulanz eines nahegelegenen Krankenhauses.
Mit den Bildern seiner nächtlichen Odyssee, die ihn über den serpentinenähnlichen Aufgang zur Ambulanz führt, beginnt der Film, und sie werden später, aufgezeichnet von einer Überwachungskamera, noch häufiger wiederholt. Doch die Ambulanz hat geschlossen, und plötzlich ist nichts mehr so, wie es vorher war. Die Polizei ist misstrauisch, zumal keiner der Gäste Anna kannte; Laura geht auf Distanz zu Karsten, ihre beste Freundin Judith wittert sogar eine Affäre. Damit nicht genug: Karstens Vater sorgt sich um seinen guten Ruf und beauftragt einen Anwalt, zumal die Familie der Toten Anklage erhebt. Karstens Chef hingegen fürchtet die Publicity und versetzt den jungen Mann erst mal in ein Büro im Keller – ohne Publikumsverkehr. Der junge Mann muss hilflos mit ansehen, wie ihm sein Leben entgleitet.
Spannung aus der Provinz. In dem Film der türkischstämmigen Regisseurin Asli Özge geht es allerdings nur an der Oberfläche um so etwas wie einen Kriminalfall. Mord? Totschlag? Unterlassende Hilfeleistung? Was geschah wirklich in der Wohnung? Der Zuschauer entdeckt das Geheimnis zusammen mit den Figuren. Das Unbehagen an dem Charakter, das Rätsel seines unbedachten Handelns, die Drohung eines unabwendbaren Desasters lässt einen nicht mehr los und sorgt bis zum Schluss für Spannung. Warum hat Karsten im entscheidenden Moment nicht sofort den Notarzt gerufen? Ein Fehlverhalten, das in einer von Bergen und Wäldern umgebenen Kleinstadt, die darum immer auch wie ein Gefängnis wirkt, sofort auffällt und vielfältige Auswirkungen hat – auf Familie, Berufswelt, Freunde, Polizei und Gerichte, die am Schluss die Klage verhandeln.
In der Provinz ist es stets auch von Bedeutung, wie die Umwelt reagiert und was die anderen denken. Die Ansprüche von Freunden, Eltern und Kollegen lösen einen Druck aus, der Fehler bedingt, aber auch Gegenwehr provoziert: Alles zu verlieren, ist keine Option.
Dem Film ist ein Shakespeare-Zitat aus „Hamlet“ vorangestellt: „Denn an sich ist nichts weder gut noch böse, das Denken macht es erst dazu.“ Es geht also um die Scheinheiligkeit der unmittelbaren Umgebung, die anderen Schuld zuweist und für sich selbst Moral und Gerechtigkeit reklamiert. Der Film blickt hinter die Kulissen einer heuchlerischen Gesellschaft, die auf Ansehen und Image bedacht ist.
Die Melancholie des Films fängt die Kamera mit ausdrucksstarken, stilistisch ausgefeilten Bildern der engen klaustrophobischen Gassen Altenas, aber auch der bedrückend wirkenden Landschaft elegant ein. Sie teilt sich aber auch in der Farbgebung mit. Rostbraune und gelbrote Blätter künden vom Ende des Herbsts, von Wechsel und Veränderung. Das macht sich vor allem an Sebastian Hülk, dem perfekt besetzten Hauptdarsteller, fest. Von unsicher und introvertiert über wehleidig und passiv bis wütend und entschlossen legt er alle Schichten der Figur bloß und macht glaubwürdig ihre Wandlung deutlich. Am Schluss ist er ein anderer geworden – zu seinem eigenen Erschrecken.