Für den neunjährigen Ren ist eine Welt zusammengebrochen. Seine Mutter kam bei einem Autounfall ums Leben, vom Vater sind seit der Scheidung allenfalls Fotografien übrig. Und vom reichen Vormund will Ren partout nichts wissen. Lieber flüchtet er in die Anonymität der Straßen Tokios.
„Nun gut, dann erzählen wir euch also die Geschichte…“, klingt es ebenso fordernd wie ungeduldig aus dem Off. Wir befinden uns im Prolog eines wahrhaft ungewöhnlichen Abenteuers. Der Geschichte eines rebellischen Jungen und eines ebensolchen Tiermonsters. Ein Märchen also? Ja und nein! Auch wenn alles im heutigen geschäftigen Treiben der höchst irdischen Megametropole spielt, kann man in Japan nie sicher sein, ob sich im Gewirr aus Gassen und Häuserwinkeln nicht doch eine zweite Welt auftut, die mit der unseren nichts gemein hat.
In diese stolpert Ren ganz unvermittelt. Eben ist er noch im Halbschlaf vom mürrischen Brummen eines zotteligen Hünen aufgeschreckt, schon irrt er aus den auch nachts noch belebten Straßen des In-Viertels Shibuya in etwas, was ebenso hektisch, aber gänzlich fremd ist. Eine verborgene Stadt innerhalb Tokios: Jutengai, das Königreich der Tiermonster, soll weit über 100.000 Geschöpfe beherbergen, die von weitem den Menschen ähneln, aus der Nähe betrachtet jedoch Züge von Hunden, Hirschen, Katzen, Schweinen oder anderen Vierbeinern tragen.
Der verwirrte Ren stößt gerade zur Unzeit ins geheime Reich der Fabelwesen, kündigen sich doch politische Veränderungen an. Großmeister Soshi will sich als Gott zur Ruhe setzen und sucht einen Nachfolger für die Führung des Landes. Infrage kommen nur starke und edle Wesen – so wie Ioze, der sich nicht nur als guter Kämpfer, sondern auch als Familienvater auszeichnet. Um als Konkurrent in den Ring zu steigen, müsste der bärige Hüne Kumatetsu zumindest einen Schüler sein eigen nennen sowie ein wenig von seiner kaum liebreizenden Schnodderigkeit und tumben Aggressivität ablegen. Der verschreckte Ren kommt ihm als Schüler ziemlich gelegen, zumal Ren dem polternden Tiermonster zumindest verbal mehr als Paroli bieten kann. Gesucht, gefunden. Und so kann das Abenteuer beginnen.
Regisseur Mamoru Hosoda hat sich bereits in seinen Animes „Das Mädchen, das durch die Zeit sprang“ (2006), „Summer Wars“ (2009) und „Ame & Yuki – Die Wolfskinder“ (2012) mit dem Wandern zwischen der rationalen und irrationalen Welt beschäftigt; mit seinem klassischen 2D-Trickfilm „Der Junge und das Biest“ bestätigt er sich nun einmal mehr virtuos als Grenzgänger. Wie im Märchen üblich und im Shintoismus, Japans tragender religiöser Säule, nicht ungewöhnlich, durchdringen sich die Welt des Übersinnlichen und des Hier und Jetzt wie selbstverständlich. Haben sich die eigentlich inkompatiblen Protagonisten erst einmal aneinander gewöhnt, sind unterschiedliche Herkünfte kein Problem mehr. Es kann sich fortan vergnüglich gekabbelt werden. Dabei geht es ebenso herzlich wie rau zu in der väterlich-freundschaftlichen Partnerschaft zwischen Ren, der als Schüler nun Kyuta heißt, und Kumatetsu; eine Partnerschaft, die gut ein Jahrzehnt harter Lehre beinhaltet und an der Lehrer wie Schüler reifen werden. Hosodas Originaldrehbuch mäandert immer wieder zwischen Tokio und Jutengai; denn während Kumatetsu versucht, seinen Schüler beim Erwachsenwerden zu unterstützen und sich selbst für den finalen Kampf gegen Iozen zu qualifizieren, entdeckt Kyuta in Tokio die Liebe zur Gymnasiastin Kaede, die dem ruppigen Kämpfer die menschliche Zivilisation näher bringt.
Es ist ein unmögliches Unterfangen, den Anime auf ein Genre oder eine Gattung festzulegen. Furios und respektlos bedient er sich bei westlichen Fabeln, Literaturklassikern wie „Moby Dick“, fernöstlichen Parabeln, Science-Fiction, Fantasy und Martial Arts. „Der Junge und das Biest“ ist an der Oberfläche brachiale Komödie, gleichsam aber auch intensives Seelendrama, wenn es um die Identitätsfindung eines Kindes und später eines Jugendlichen mit einer abenteuerlichen Sozialisationsgeschichte geht – in der am Ende auch dem wahren Vater eine würdige Rolle zugestanden wird. Zudem ist er eines der originellsten Buddy-Movies überhaupt: Denn wo sonst finden sich ein zweibeiniger Wolfsbär und ein am Ende 17-jähriger Junge, um gemeinsam die Welt – welche auch immer – zu meistern?