Die Kleidung des vollbärtigen Mannes ist eine ästhetische Herausforderung: In einem roten Anzug erscheint er bei einer Beerdigung, in seinen Klamotten haben sich die 1970er-Jahre überlebt. Ben will nicht Teil der Gesellschaft sein und sich deren Regeln unterordnen. Er hasst Kapitalismus, künstliche Lebensmittel, jegliche Art von Zwängen, Vorschriften, die die Menschen in Wirklichkeit nicht befreien, sondern einschränken. Mit seiner Frau Leslie hat er sich schon lange aus diesem Leben verabschiedet. Entfernt von der Zivilisation (und nur mit wenigen Bindungen zu ihr), haben sie im ländlichen Nordwesten der USA eine Familie mit sechs Kindern und ihr eigenes Paradies gegründet. Doch nun ist Leslie tot. Und die Vertreibung aus dem Paradies steht bevor.
Matt Ross erzählt in seiner Tragikomödie von einem Mann, der unabhängig sein wollte und zunehmend an seine Grenzen stößt. Nachdem sich die unter schweren Depressionen leidende Leslie im Krankenhaus das Leben genommen hat, erhebt Bens Schwiegervater schwere Vorwürfe gegen Ben. Den Aussteiger will er nicht bei der Beerdigung sehen. Außerdem besteht er darauf, dass Leslie in einer traditionellen Trauerzeremonie beerdigt wird. Wie sehr Ben diese Vorstellung plagt! Er weiß, dass Leslie es sich anders gewünscht hätte. Und so macht er sich in einem umgebauten Schulbus mit seinen Kindern auf den Weg nach Arizona, um das Schlimmste zu verhindern.
Natürlich lebt das Road Movie, das sich von nun an entspinnt, von der Konfrontation. Mit Supermärkten oder Diners können auch Bens Kinder nichts anfangen. In der Zivilisation sind sie, die ihre Initiation durch das archaische Töten eines Hirschs erfahren haben, hoffnungslos verloren. Gerne würde der älteste Sohn Bo um das attraktive Mädchen auf dem Campingplatz werben. Aber wie er es anstellt, ist rührend lächerlich. Und sehr weltfremd. Aber Ross stellt Ben und dessen Familie nicht bloß. Vielmehr zeigt er mit großer Sympathie, mit welchen Idealen Ben und Leslie die ausgetretenen Pfade verlassen, was sie verloren, aber auch gewonnen haben. Nicht immer stehen die Aussteiger auf der Verliererseite. Ben ist ein Verfechter von lebendigem, nicht nur stur auswendig gelerntem Wissen und hat seine Kinder im Home-Schooling unterrichtet. Damit haben sie ihren Gleichaltrigen, die sich dem Schulsystem unterordnen, einiges voraus. Andererseits führt die Reise Ben zur ein wenig bitteren Erkenntnis, dass zur Bildung in einem weit gefassten Sinne nicht nur Noam Chomsky, Wirtschaftstheorien oder politische Konzepte gehören, sondern auch das Wissen um Schuhmarken und Playstation-Spiele. Zuvor aber wird der Widerspruch zwischen beiden Welten einen Keil durch die Familie treiben, wenn sich der Wunsch der jugendlichen Kinder nach weniger Ideologie (oder auch nur nach Teilhabe an der »Normalität«) gegen den rebellischen Lebensentwurf des Vaters wendet.
Vieles vermittelt der Film über die Musik, die vom sphärischen Score zur Akustikmusik reicht und den anschwellenden Konflikt zwischen Auflehnung und Anpassung auf einer anderen Ebene verhandelt – etwa wenn Ben es zulässt, dass durch einen durch seine Kinder angestoßenen aggressiven Rhythmus aus einem ruhigen Gitarrenlied am Lagerfeuer eine mitreißende Jam Session wird. Ganz ohne Worte gelingt es in solchen Momenten, das zerbrechliche Gefüge innerhalb der Familie, die Machtverhältnisse und die Ideale des Zusammenlebens und die individuellen Bedürfnisse der Einzelnen auf den Punkt zu bringen. Dazu legt sich durch Lichtreflexe und Lichtstimmungen eine Melancholie über die Bilder, färbt sie emotional ein oder strahlt einfach eine unglaubliche Harmonie aus. In seiner Feier des Träumens und des Individualismus ist »Captain Fantastic« ein ur-amerikanischer Film, der zugleich Brüche zeigt und dem Idealismus eine differenzierte realistische Sicht entgegenstellt. Und der schließlich in einer wunderbaren langen Schlusseinstellung mündet, ganz friedlich und versöhnlich.