Das Lied ist verstummt, die Linie durchbrochen. Karamakate, Schamane eines ausgerotteten indigenen Stammes, weiß mit den Coca-Blättern nichts anzufangen. Ausdruckslos sieht er zu, wie der amerikanische Botaniker Evan sie vor seinen Augen zu feinem Pulver zerstampft. „Die Steine, die Bäume, die Tiere, alles schweigt. Sie sprechen nicht mehr zurück“, so die Klage des alten Mannes. Nach Jahren der Isolation sieht er sich als „chullaqui“, als seelenlosen Wiedergänger, ohne Verbindung zu Geschichte, Umgebung und kultureller Identität. „Der Schamane und die Schlange“ von Ciro Guerra erzählt unter anderem davon, wie Karamakate diese gekappte Verbindung Stück für Stück wieder aufbaut.
Angelehnt an die Tagebuchaufzeichnungen des deutschen Anthropologen und Forschungsreisenden Theodor Koch-Grünberg (1872-1924) und des amerikanischen Ethnobotanikers Richard Evans Schultes (1915-2001) schiebt Guerra zwei Reisegeschichten ineinander. Beide beschreiben die Begegnung von indigener und kolonialer Welt vor dem Hintergrund des Kautschukbooms im Amazonasgebiet. Die erste Geschichte setzt Anfang des 20. Jahrhunderts ein. Karamakate ist jung, wütend und wissend. Er soll den sterbenskranken Forscher Théo heilen. Rettung verspricht eine heilige Pflanze mit dem Namen Yakruna. Zusammen mit Théo und seinem assimilierten Assistenten Manduca macht er sich auf die Suche nach dem geheimnisvollen Gewächs.
Rund drei Jahrzehnte später wendet sich erneut ein Forscher an Karamakate, um die Yakruna-Pflanze zu finden. Beide Geschichten überlagern sich, werden zum Spiegelbild der anderen und finden auf einer Zeitachse zusammen. „Du bist zwei Männer“, sagt Karamakate mehrfach zu Evans, den er als „Revenant“ von Theo zu erkennen glaubt.
Im Kern geht es hier also um Wissen als lebendige, identitätsstiftende Materie, aber auch als umkämpftem Gegenstand (kolonialer) Macht- und Forschungsinteressen. Die Forscher reisen mit Fotoapparat, Büchern und Schmetterlingssammlungen, sie behüten ihre Aufzeichnungen wie ihren Augapfel. „Beweise“ und „Nachwelt“ sind Worte, die häufig fallen.
Die Reise wird zu einem erbitterten Kampf um Autorität und Entscheidungsgewalt. Als Théo von einem Stammesführer um seinen Kompass beklaut wird, argumentiert er paternalistisch und kolonialisierungskritisch zugleich: durch den Gebrauch des Kompasses würden die Menschen ihre Jahrhunderte lang praktizierte Orientierung an Wind und Sternen verlieren.
Unterwegs auf der Suche nach der Yakruna-Pflanze werden zwar Kautschukplantagen und Missionsstationen passiert, doch der Film wendet das Reisemotiv überwiegend nach innen. Die Überwindung von Distanzen und Widerständen spielt praktisch keine Rolle. Guerra arbeitet eher an einer Atmosphäre des Sublimen, nicht zuletzt durch die hochatmosphärischen Schwarzweiß-Bilder – bei den Tagszenen eine breite Graupalette, bei den Nachtszenen harte Kontraste und eine nur punktuelle Beleuchtung, die Noir-Stimmungen heraufbeschwört. Mitunter blitzt Herzog’scher Dschungel-Wahnsinn auf. Ein alter Kapuzinermönch hat in einer Missionsstation einen kleinen Staat über „wilde“ Kinder errichtet, die mit liturgischen Gesängen und Peitschenhieben in die Zivilisation geprügelt werden. Jahre später ist der Ort zu einem Schauplatz des Schreckens geworden: christliche und naturreligiöse Elemente haben eine wahre Missgeburt hervorgebracht. Guerra schließt in diesen Szenen an ein „klassisch“ westliches Narrativ an, das den Dschungel, sei er nun im Kongo oder im Amazonas, als ein Herz der Finsternis begreift.
Im Zentrum aber versucht sich „Der Schamane und die Schlange“ an einer Revision des ethnografischen Films und seines Blickregimes: Er rückt den Schamanen ins Zentrum der Erzählung und setzt den Dschungel als einen geschichtlichen und identitätsstiftenden Raum in Szene. Der weiße Mann, der sein Grammophon durch den Dschungel schleppt, ist hier das wahrhaft exotische Subjekt. Dabei versteht Karamakate ganz unmittelbar die Bedeutung von Haydn: „Höre auf das Lied Deiner Vorfahren“.