Der Begriff „Themenkino“ ist in den letzten Jahren zu einem beliebten Schimpfwort der deutschen Filmkritik avanciert. Zu Recht. Bezeichnet er doch – polemisch formuliert – ein Kino, das kein Kino ist. Genauer: Ein Kino, das nur Inhalt sein will und nicht Form. Ein Kino, das die gesellschaftliche oder politische Relevanz seines Themas mit seiner Relevanz als Kunstwerk gleichsetzt. Begünstigt wird solch ein Kino in Deutschland durch die Drehbuch-Fixiertheit der Filmförderungen, die Macht des Fernsehens und durch die Auswahlpolitik des bedeutendsten deutschen Filmfestivals: der „Berlinale“.
Umso schöner, dass dort in diesem Jahr mit „Seefeuer“ des Italieners Gianfranco Rosi ein Film gewonnen hat, der trotz seines zeitpolitisch virulenten Themas dezidiert kein „Themenkino“ ist (das Gegenbeispiel war in Berlin der zweite Dokumentarfilm im Wettbewerb: der Cyberkriegsfilm „Zero Days“ von Alex Gibney). Rosis Ansatz ist weit entfernt vom journalistischen Fernsehdokumentarismus. Er ist ein Filmemacher, der nichtfiktionalen Film dezidiert für die große Leinwand „inszeniert“. Das kann bisweilen durchaus wörtlich genommen werden. Wenn zu Beginn der Protagonist Samuele mit einem Freund auf einem Motorroller über die Insel Lampedusa braust, steht die Kamera weit weg, um in der Totalen den Weg der beiden vom Horizont in den Vordergrund zu verfolgen. Natürlich ist das kein Bild, das aus der einfachen Beobachtung entstanden ist – und es tut auch nicht so. Es wurde aus ästhetischen und symbolischen Gründen inszeniert: weil es einen spektakulären Überblick über die raue Landschaft der Insel gibt und weil es zugleich etwas über die Einsamkeit von Samuele erzählt.
Rosi hat ein Jahr auf der Insel 120 Meilen südlich von Sizilien verbracht, die zu einem Symbol für die Herausforderungen geworden ist, denen Europa durch die Fluchtbewegung von Menschen aus Afrika sowie dem Nahen und Mittleren Osten ausgesetzt ist. Eine Texttafel informiert zu Beginn, dass in den letzten 20 Jahren 400.000 Menschen die gefährliche Überfahrt von Nordafrika gewagt haben; man geht davon aus, dass 15.000 von ihnen dabei starben.
Rettungsaktionen auf hoher See zeigt Rosi nur am Anfang und am Ende – am Schluss mit drastischen Bildern von Dutzenden Toten im Bauch eines Schiffes. Dazwischen folgt er vor allem dem zwölfjährigen Samuele im Alltag und kontrastiert dies mit Aufnahmen aus dem Erstaufnahmelager der Insel. Auf Interviews verzichtet Rosi dabei vollständig. Eine Ausnahme machen die Schilderungen eines Arztes, der anhand von Fotos über den schockierenden gesundheitlichen Zustand vieler Flüchtender bei der Ankunft berichtet. In der Figur des engagierten Mediziners, der trotz seines grausigen Alltagsgeschäfts seine Empathie nicht verloren hat, kann man so etwas wie einen Stellvertreter des unsichtbar und unhörbar bleibenden Filmemachers sehen.
Am humanistischen Anliegen Rosis besteht kein Zweifel, er hat es in Interviews zum Film auch immer wieder betont. Dennoch ist „Seefeuer“ ein zwiespältiger Film. Zunächst dadurch, dass der Filmemacher vor allem Samuele in den Vordergrund stellt; es gibt keinen Flüchtenden, dem auch nur annähernd so viel Leinwandzeit gewidmet wird. Die Afrikaner und Syrer bleiben anonym, sie sind immer nur in größeren Gruppen zu sehen und fast immer im Halbdunkel. So bekommen sie etwas Bedrohliches, insbesondere wenn eine große Zahl junger Männer Richtung Mekka geneigt betet. Der einzige Flüchtende, der so etwas wie eine Subjektivität erhält, rappt und singt in einem Klagelied über die Flucht seiner Gruppe durch die Sahara, über das Gefängnis in Libyen und die Fahrt über das Mittelmeer. Er erzählt von Durst, Hunger, Folter, Ertrinken – eine bewegende Szene, aber ebenso verstörend, wenn der junge Mann immer wieder mit agitierend-anklagender Stimme wiederholt, dass sie ihre „Pisse“ trinken mussten, um nicht zu verdursten.
Im Kontrast dazu steht Samuele, der mit seinem Vater, einem Fischer, und seiner Großmutter in einem bescheidenen Häuschen ein ruhiges Leben führt. Mit selbstgebastelter Zwille zieht er allein oder mit seinem scheinbar einzigen Freund über die Insel und gibt sich martialisch. Aber eigentlich ist er ein liebenswerter, ängstlicher Junge, der sofort seekrank wird, wenn er mit seinem Vater aufs Meer fährt, und der wegen eines „faulen Auges“ eine Augenklappe tragen muss. Seine Familie erfüllt die üblichen Italienklischees inklusive Heiligenfiguren im Schlafzimmer und Spaghetti zum Mittagessen. Mit den Flüchtenden auf der Insel kommen Samuele und seine Familie anscheinend nicht in Kontakt – oder nur über die Radionachrichten, die mal wieder von einem gekenterten Boot und Toten berichten.
Rosi hat den Fokus auf Samuele damit erklärt, dass die Aufnahmestelle für Flüchtende wegen Renovierungsarbeiten monatelang geschlossen war, als er auf der Insel drehte. Außerdem hielten sich die Flüchtenden nur wenige Tage auf Lampedusa auf, bevor sie auf das italienische Festland gebracht würden. Daher habe er nicht die Möglichkeit gehabt, wirklichen Kontakt aufzubauen und Samuele etwa einen afrikanischen Jungen gegenüberzustellen.
Dennoch hätte Rosi die Flüchtenden anders zeigen können. Oftmals wirken sie im Dunkeln, eingehüllt in goldene Rettungsdecken, wie Aliens, die in Massen in einem entvölkerten „alten“ Europa gelandet sind, das dem Untergang geweiht ist. Dieser Eindruck drängt sich insbesondere auf, wenn man „Seefeuer“ mit dem Dokumentarfilm „Lampedusa im Winter“ (2015) von Jakob Brossmann vergleicht, der ein völlig anderes Bild der Insel zeichnet. Dort kann man sehen, wie Einheimische Flüchtende bei ihrem Protest gegen die Zustände im Aufnahmelager unterstützen, wie die engagierte Bürgermeisterin der Insel sowohl für die Einheimischen als auch die Fremden kämpft und wie Künstler vor Ort aus den gestrandeten Habseligkeiten von Flüchtenden aktivistische Kunst machen. Auch Brossmann liefert kein „Themenkino“, doch er gewichtet völlig anders. Im Vergleich dazu läuft Rosis Film Gefahr, über der Schönheit und Poesie seiner Bilder einen melancholischen Blick auf die Krise zu befördern, der eher Ängste schürt, als sie zu nehmen.