Das signifikanteste Bild für das Ende einer 25-jährigen Ehe ist das der Lücken im Bücherregal: Nathalie, Philosophie-Lehrerin an einem Pariser Lycée, ist außer sich, als sie nach dem Auszug ihres Mannes Heinz die zerpflückte Bibliothek erblickt – während ihre Reaktion auf seine Ankündigung, sie zu verlassen, vergleichsweise gefasst ausfällt. Auch Heinz, der Philosophie an der Universität unterrichtet, jammert einmal über einen vergessenen Schopenhauer-Band wie über einen abwesenden Freund: »Er fehlt mir so.« Dass in Mia Hansen-Løves Film Bücher von Rousseau, Günther Anders und Žižek bis zum linksradikalen Essay »Der kommende Aufstand« einen so geräumigen und selbstverständlichen Platz einnehmen – sie werden besprochen, ausgetauscht, verschenkt –, sagt viel über das intellektuelle Milieu der Figuren, aber auch über die Erzählhaltung der Regisseurin. Hansen-Løve hierarchisiert nicht zwischen dramatischen und alltäglichen Ereignissen, zwischen dem Zentrum und der Peripherie der Geschichte, den Figuren und den Dingen. Trennung, Tod, eine Schulstunde, eine Debatte über politische Radikalität, das Zusammenleben mit einer Katze und immer wieder Bücher: Alles steht gleichberechtigt nebeneinander, wird mit der gleichen Aufmerksamkeit bedacht.
Wie schon in ihren Filmen »Der Vater meiner Kinder« (2009, fd 39884), »Un amour de jeunesse« (2011, fd 41284) und »Eden« (2014, fd 43063) geht es auch in »Alles was kommt« um die Spuren der Zeit, um Abschiede wie auch ums Weitermachen. Nathalie sieht sich nach Erfahrungen mit Trennung und Tod einer neuen Freiheit gegenüber. Zuerst geht der Mann, dann stirbt die Mutter, eine überspannte, besitzergreifende Frau, die Nathalie jahrelang mit ihrer Hilfsbedürftigkeit erpresst hat. Verluste gibt es auch in Nathalies Arbeitsleben: Die Edition philosophischer Grundlagentexte, die sie herausgibt, soll ein populäreres Aussehen bekommen, was im Ergebnis sehr nach »Haribo-Werbung« aussieht. Auch Freiexemplare gibt es keine mehr. Dahin, wo Lücken waren, treten jedoch andere Dinge, andere Menschen, Begegnungen. Zu ihrem ehemaligen Schüler Fabien, der sich einer Anarchisten-Gruppe auf dem Land angeschlossen hat, intensiviert sich das Verhältnis, von der Mutter erbt Nathalie (die Katzenhaar-Allergikerin) eine Katze namens Pandora, sie bekommt eine Enkeltochter.
Auch der neue Film ist autobiografisch motiviert: Hansen-Løves Eltern arbeiteten als Philosophie-Lehrer, sie selbst hat deutsche Philosophie studiert. Entsprechend präsent sind die deutsche Philosophie und Sprache – von Schopenhauer, Enzensberger und dem Schubert-Lied »Auf dem Wasser zu singen« (nach dem Gedicht des Lyrikers Graf Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg) über ein linkes Verlagskollektiv aus Berlin bis zum mit hinreißendem Akzent ausgesprochenen »(H)einz«. Intellektualität hat hier nichts Trockenes, Sprödes, Weltabgewandtes, ist, ganz im Gegenteil, lebendig, kommunikativ, sensuell, den Menschen und dem Leben nah. Überhaupt ist »Alles was kommt« ein Film voller Bewegung, nicht hastig, aber doch zügig erzählt. Isabelle Huppert hat ständig etwas zu tun, man sieht sie beim Gehen und Reden, beim Gehen und Telefonieren, beim Lehren, in der Metro, vertieft in ein Buch – es gibt kein Verharren, kein Aufhalten in der Introspektion, das Leben ist immer gefüllt. So aufmerksam wie gelassen blickt der Film auf die Verluste im Leben anstatt sie zu beweinen. »Alles was kommt« erzählt das Leben dieser nicht mehr jungen bürgerlich-intellektuellen Frau gerade nicht als Mangel und Kompromiss. Nicht als Davor eines Aufbruchs und auch nicht als Danach einer erfüllten Existenz, sondern als reine Gegenwart: um ihre Vergänglichkeit bewusst, aber offen und immer schön im Flow.