Der „Schellen-Ursli“ ist in der deutschsprachigen Schweiz fast so bekannt wie „Heidi“: eine der Literatur entsprungene Figur, die im Volksbewusstsein sehr gegenwärtig ist. Uorsin, wie er mit Taufname heißt, lebt wie Heidi im Kanton Graubünden; geografisch ist seine Heimat allerdings ein bisschen tiefer gelegen, in dem Engadiner Dorf Guarda. Im Unterschied zu Johanna Spyris 1880/81 in zwei Bänden erschienenem Entwicklungsroman, der es zu Weltruhm brachte und den Namen „Heidi“ zu einem „Swissness“ garantierenden Markenzeichen machte, zählt „Schellen-Ursli“ gerade mal 42 Seiten. Ein Bilderbuch eben: 20 ganzseitige Zeichnungen des Bündner Malers Alois Carigiet, dazu eine in Versen verfasste Erzählung der Engadiner Dichterin Selina Chönz.
Die Zeichnungen sind simpel. Die Geschichte beleuchtet eine kurze Episode aus dem Leben eines in ärmlichen Verhältnissen lebenden Bauernjungen. Sie entfaltet sich rund um einen traditionellen Winterend-Brauch: den „Chalanda-Marz“, bei dem die Knaben, begleitet von Blumenmädchen, mit Glocken – oder eben Schellen – um den Hals um den Dorfbrunnen gehen und den Winter „ausschellen“ (verjagen). Ursli ergattert bei der Verteilung der Glocken die kleinste Schelle, weshalb er im Umzug ganz hinten gehen müsste und von den anderen Kindern deswegen verlacht wird. Doch Ursli wehrt sich gegen sein Schicksal. Mitten im tief verschneiten Winter bricht er zum Maiensäss auf, der nur im Sommer in Betrieb gehaltenen, noch höher gelegenen Sommeralp der Familie, wo eine riesige Kuhglocke hängt. Klar wird der sonst gern Gehänselte im Dorf nun vermisst, man sucht ihn, macht sich Sorgen.
Diese Geschichte, die letztlich vom Mut handelt und davon, dass es darum geht, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen, ist schon für kleine Kinder verständlich und deswegen entsprechend beliebt. Als Vorlage für einen abendfüllenden, 100-minütigen Familienfilm ist das jedoch knapp bemessenes Material. Xavier Koller hat das Wagnis auf sich genommen und ein kleines, sich in der Schweiz auch an der Kinokasse niederschlagendes Wunder (mit über 412 000 Besuchern nach 15 Wochen) vollbracht. Zusammen mit dem Co-Autor Stefan Jäger hat er Uorsins Geschichte clever weitergesponnen und mächtig aufgepeppt, mit etlichen neuen Figuren und im Buch nur am Rand erscheinenden, im Film aber tragenden Nebenrollen. Etwa Uorsins Freundin Seraina, die im Film eine nicht unwesentliche Rolle spielt, und dem Zicklein Zila, das zum Zankapfel unter den Kindern wird. Aber auch mit viel Dorfleben und Schulalltag, einer prächtig ins Tal donnernden Lawine und einer Pferdefuhre von Käse und Heu, die eingangs eine steile Schlucht hinunterkullert und schuld daran ist, dass Uorsin und seine Eltern im Winter an den Rand ihrer Existenz geraten.
Verortet ist Uorsins Geschichte in einer nicht genauer bestimmten Vergangenheit. Mit Jonas Hartmann als sympathisch-aufgewecktem Jungen und gestandenen Schweizer Schauspielern wie Marcus Signer, Leonardo Nigro und Tonia Maria Zindel ist „Schellen-Ursli“ ein rundum geglückter und toller Kinderfilm, der zumindest in seiner Heimat auch das erwachsene Publikum begeistert. Nur der Umstand, dass Xavier Kohler das im Buch vorkommende neugierige Füchslein in einen stattlichen Wolf verwandelt hat, führt in der Schweiz zu einigen Kontroversen. Das hat aber weniger mit seiner Rolle zu tun, als vielmehr mit der Tatsache, dass Wölfe, die in Schweiz seit dem 19. Jahrhunderts ausgerottet waren, inzwischen wieder zurückgekehrt sind und als geschützte Raubtiere, die sich ab und zu an Schafen vergreifen, die Gemüter erregen.