In Andalusien ist es im September noch heiß. Seltene Gewitter sorgen für drückende Schwüle. Im Marschland an der Mündung des Guadalquivir leben nur wenigen Menschen, und die wollen alle weg. Kaum einer hat Arbeit, und wenn, dann hat sie etwas mit Fischen zu tun. Aus der Vogelperspektive sehen sie mäandernden Adern des Flusses wie Gehirnwindungen aus. Wie die Windung eines kranken Hirns. Denn so schön die Landschaft von oben auch aussieht: unten modert es, wenn auch in bunten Farben.
Zwei Mädchen sind verschwunden. Minderjährige, kaum 17 die eine, 16 die andere. Niemand wundert sich darüber, denn die beiden waren immer schon umtriebig. Vergnügt haben sie sich gerne, heißt es. Doch als sie Ende September 1980 tot im sumpfigen Marsch gefunden werden, missbraucht und verstümmelt, da halten die Menschen kurz inne.
Um das Verbrechen aufzuklären, sind Pedro und Juan aus Madrid in die andalusische Einöde gekommen. Beide sind zwar Kollegen, doch nicht sonderlich vertraut miteinander. Pedro ist der jüngere und auch kein junger Draufgänger mehr. Seine Frau erwartet ein Kind, das die kleine Familie festigen und dem Grübler endlich Halt geben soll. Juan ist älter, gesetzter, scheinbar ruhiger. Während des wenigen Schlafs, den er findet, plagen ihn seltsame Gedanken und Visionen. Beide sind sich nicht grün, aber der Job verlangt, dass sie ein Team bilden – und das tun sie.
„Sie wissen, dass wir jetzt in einer Demokratie leben?“ Der örtliche Vorgesetzte von Pedro und Juan kann mit den mitunter rüden Ermittlungsmethoden der beiden nicht sonderlich viel anfangen. Den schönen Jesús Carroza müssen sie wieder frei lassen, auch wenn der einfältige Junge wohl mit allen Mädchen der Gegend schon eine Affäre hatte. Je länger die Cops in der Hitze des Marschlands ermitteln, desto unübersichtlicher wird die Lage und desto blanker liegen die Nerven.
Zwei Leichen, eine verschworene Dorfgemeinschaft, organisierter Kindesmissbrauch, Drogenschmuggel und Polizisten, die ebenfalls Leichen im Keller liegen haben. Der Krimi von Alberto Rodríguez avancierte 2014 zu einem der erfolgreichsten und am meist ausgezeichneten Filme des Jahres. Woran das liegt, erahnt man nach den ersten Minuten des Films. Es ist nicht allein die Vogelperspektive auf die bizarr strukturierte Marschlandschaft, es ist vor allem das sparsame Zupfen der Gitarre, das sich sanft in die Schreie der Zugvögel mischt und sich langsam zur musikalische Fratze wandelt, die die Schönheit der Landschaft ganz hässlich macht. Dazu kommt das Kreischen der Gänse, die ganz kurz wie die Todesschreie von Kindern klingen. Oder war das nur eine akustische Täuschung? All das passiert im Vorspann, noch bevor die beiden Protagonisten wortlos auf der Bildfläche erscheinen und den Blick auf eine morbide Szenerie frei geben, in der das Böse haust.
Es ist das audiovisuelle Einfühlungsvermögen des 45-jährigen Regisseurs, das sein solides Drehbuch in etwas Meisterhaftes verwandelt. Er besitzt die Gabe, Handlung in Stimmung zu übersetzen. Eine kurze Geste, eine geschickte Montage, ein Ton oder ein Blick erspart lange, umständliche Dialoge und fokussiert den Blick auf das Wesentliche. Da auch die Darsteller wissen, dass ihre Sätze nur ein Teil des Gesamtkunstwerks Film sind, entsteht hier so viel mehr als nur ein Krimi. „La Isla Minima“ zeichnet fast nebenbei das Sittenbild eines Landes, das sich gerade erst (und längst nicht erfolgreich) aus den Fängen der Diktatur befreit hat; der Film ist aber auch ein epischer Abgesang auf die Unschuld. Monster sind in uns allen zu Hause. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie ans Tageslicht kommen, und ob wir sie bändigen können.