„Boulevard“ ist einer der letzten Spielfilme, die Robin Williams gedreht hat. Williams spielt darin einen bieder ergrauten Bankangestellten, der sich in einen Strichjungen verliebt. Es ist fast unmöglich, Williams’ persönliches Schicksal, seine Depressionen und seinen Suizid auszublenden, wenn man sieht, wie schwermütig seine Filmfigur Nolan durch den US-amerikanischen Kleinstadtalltag wankt. Williams zählte zu den wenigen Schauspielern, die in Dramen und Komödien gleichermaßen überzeugten. Dennoch wurde er öffentlich vor allem als Komiker wahrgenommen. Die albern überdrehte „Mrs Doubtfire“
(fd 30 629) wurde er nie mehr los. Auch all die köstlichen Grimassen, die der Hollywoodstar im Laufe seiner Filmkarriere schnitt, formen den Resonanzraum, den die starre Mimik Nolans, sein fahles Gesicht zum Schwingen bringen. Der quirlige, heitere Williams aus der Erinnerung lässt seinen ernsten, behäbigen Schreibtisch-Jedermann umso zombiehafter wirken.
Trotz der ausgezeichneten Nebendarsteller ist „Boulevard“ durch und durch ein Williams-Film. Zunächst liegt das am Drehbuch von Douglas Soesbe, das den Closet-Schwulen Nolan und sein zaghaftes Erwachen in den Mittelpunkt rückt. Soesbe schreibt aus eigener Erfahrung. Zudem ordnet sich auch die Inszenierung von Dito Montiel der Präsenz des Hauptdarstellers unter. Als Nolan in einem dramaturgischen Schlüsselmoment seinem bettlägerigen Vater gesteht, dass er eigentlich schon als 12-Jähriger gewusst habe, dass er schwul sei, dies aber all die Jahre verdrängt und verheimlicht habe, verlässt sich Montiel in einer langen Großaufnahme ganz auf Williams’ Mienenspiel. Dadurch, dass Montiel auf formale Experimente weitgehend verzichtet, schafft er einen Freiraum, in dem sich Williams’ schauspielerische Wucht ungestört entfalten kann. Allenfalls wird das innere Ringen Nolans, seine Verlorenheit visuell noch zusätzlich akzentuiert. Die Kamera bewegt sich auf ihn zu oder rückt von ihm ab, bis er, nachdem er seine Frau einmal mehr ungeschickt belogen hat, in einer unerbittlichen Totalen alleine am Esstisch zurückbleibt. Williams spielt das stark, aber ähnlich wie Nolan unter der Last seiner Lebenslüge scheint auch er an dem, was der Film ihm da aufbürdet, schwer zu tragen zu haben. Geduckt und wie von unsichtbaren Zügeln zurückgehalten schleppt er sich durch die Takes.
Das ist hart an der Grenze zum Überspielen; wie der gesamte Film dazu neigt, stets eine kleine Spur zu dick aufzutragen. Roberto Aguire verkörpert den Strichjungen Leo, den Nolan auf der Straße aufgabelt, eindringlich, charismatisch. Sein melancholischer James-Dean-Blick, der sich einem förmlich ins Herz bohrt, seine leidend in Falten gezogene Stirn: Auch das ist auf Dauer fast ein Tick „too much“. Dazu noch Nolans betont langweiliger Bürokratenjob mit dem schmierigen, erzkonservativ-selbstgefälligen Filialleiter, der „Dafür komme ich in die Hölle“ brummt, als er einen Immobilienkredit für ein junges Schwulenpärchen freigibt. Immerhin entsprechen weder Nolans kluge und selbstbewusste Frau Joy noch sein bester Freund dem Klischee der engstirnigen Heteros. Umso länger braucht Nolan, bis er realisiert, dass das Leben, das er jahrzehntelang geführt hat, vielleicht nicht rundweg falsch war, aber einfach nicht zu ihm passte.
Eine Story gibt es natürlich auch noch. Die ist so schnell erzählt wie vorhersehbar. Eher zufällig zuckelt Nolan eines Abends in seinem Mercedes am Straßenstrich entlang. Leo läuft ihm dabei buchstäblich vors Auto. Wie in Trance nimmt Nolan ihn anschließend mit in ein billiges Motel. Sex spielt dabei höchstens eine untergeordnete Rolle. Der Film kommt völlig ohne Sexszenen aus. Dass das nicht verklemmt, sondern eher romantisch wirkt, liegt an der besonderen Intimität, die dadurch zwischen den beiden Männern entsteht. Denn gerade die asexuelle Nähe macht Leo zunehmend zu schaffen, gehört sie doch eigentlich nicht zu seinem Programm. Natürlich verliebt sich Nolan in Leo, wird er von ihm enttäuscht und kann und will am Ende doch nicht wieder zurück in sein altes Leben. Und natürlich eskaliert die Beziehung zu Leo gerade an dem Abend, an dem das lange angekündigte Geschäftsessen stattfindet, bei dem Nolan zum Filialleiter befördert werden soll. Das liest sich reichlich banal und konstruiert, und vielleicht würde sich das im Kino auch genauso anfühlen, würden Kathy Baker, Robert Aguire und vor allem Robin Williams ihre Figuren nicht so intensiv, mitreißend und empathisch verkörpern. Das ist bisweilen zwar nahe am Overacting, aber vielleicht gerade dadurch so ergreifend, dass einen diese kleine, traurige und hoffnungsvolle Liebes- und Lebensgeschichte nicht so leicht wieder loslässt.