1001 Nacht: Volume 1-3

Drama | Portugal/Frankreich/Deutschland/Schweiz 2015 | 381 (125/131/125) Minuten

Regie: Miguel Gomes

In Anlehnung an die „Märchen aus tausendundeiner Nacht“ entfaltet das Triptychon eine wild wuchernde Chronik der Wirtschaftskrise in Portugal und ihrer Folgen für die Bevölkerung. In einem bunten Geflecht aus tragischen, komischen und fantastischen Geschichten umspielt der Film die desaströsen Folgen der Austeritätspolitik zwischen August 2013 und Juli 2014. Jeder der drei Teile (1. „Der Ruhelose“, 2. „Der Verzweifelte“, 3. „Der Entzückte") verfügt über einen eigenen Tonfall, der in mal modernem, mal poetischem oder journalistischem Stil Milieus und Stimmungen porträtiert. Die regelmäßige Wiederkehr derselben Darsteller in unterschiedlichen Rollen und Geschichten verleiht ihm eine barock-theatrale Dimension, die Kino und Leben, Realität und Artefakt vereint. Die sprudelnde Originalität der Dialoge, Situationen und der oft ins Metaphorische oder Volkstümliche ausgreifenden Anekdoten lassen die Verwerfungen der gesellschaftlichen Gegenwart scharf hervortreten und setzen den Widersprüchen zugleich eine Simultaneität von Krise und Fantastik entgegen. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
AS MIL E UMA NOITES: VOLUME 1-3
Produktionsland
Portugal/Frankreich/Deutschland/Schweiz
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
O Som e a Fúria/Shellac Sud/Komplizen Film/Box Prod.
Regie
Miguel Gomes
Buch
Miguel Gomes · Mariana Ricardo · Telmo Churro
Kamera
Sayombhu Mukdeeprom
Musik
Mariana Ricardo
Schnitt
Telmo Churro · Miguel Gomes · Pedro Marques
Darsteller
Crista Alfaiate (Punk Maria / Geist / Scheherazade / Gräfin Beatriz) · Adriano Luz (Luís / Vater des guten Ladrão) · Rogério Samora (Premierminister) · Carloto Cotta (Übersetzer / Careto / Ruderer) · Dinarte Branco (Lopes)
Länge
381 (125
131
125) Minuten
Kinostart
11.08.2016
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung | Märchenfilm

Heimkino

Verleih DVD
Real Fiction (16:9, 2.35:1, DD5.1 port./dt.)
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Episches Werk, das auf den Spuren von Schehereazade durch die Krise Portugals führt. Ein dreiteiliger Film zwischen herbem Realismus und aufufernder Fantastik.

Diskussion
In Viana do Castelo, einer Hafenstadt im Norden von Portugal, soll eine Werft geschlossen werden. 600 Arbeiter stehen vor ihrer Entlassung, es kommt zu Demonstrationen, das Fernsehen ist vor Ort – wie auch der portugiesische Filmemacher Miguel Gomes mit seinem Team. Zur selben Zeit kämpft ein Mann gegen eine Invasion von asiatischen Wespen, die die lokale Honigproduktion in Viana do Castelo zu zerstören drohen. Aus dem Off reflektiert Gomes über die fehlende Verbindung beider Geschichten, eine mögliche Metaphorik, doch nach einem Anflug von Abstraktionsschwindel bricht er ab und flieht überstürzt vom Set. Zu Beginn von „1001 Nacht“ steht damit ein überwältigendes Gefühl der Überforderung angesichts der Faktizität der Ereignisse, ihrer Zusammenhänge wie ihrer Zusammenhanglosigkeit und eines für den Filmemacher unauflösbaren Widerspruchs. Gomes möchte einen „schönen“ Film machen, mit wundervollen und verführerischen Geschichten. Er möchte aber auch einen Film machen, der die Situation des in Folge von Wirtschaftskrise, EU-Verordnungen und Sparmaßnahmen verarmten Landes einfängt. „Es ist unmöglich, beide Filme zu machen“, sagt Gomes. Und macht dann genau so einen unmöglichen Film. Der Erzählrahmen der populären „Geschichten aus 1001 Nacht“ und die Alltagswirklichkeit der portugiesischen Bevölkerung in Folge der Austeritätspolitik: auch diese Verbindung erzeugt zunächst einen Abstraktionsschwindel. Um Konkretisierung, Sortierung oder gar Thesenbildung geht es dem portugiesischen Filmemacher in seinem dreiteiligen Werk aber gerade nicht. „1001 Nacht“ ist vielmehr der Versuch, dem dominanten Narrativ der Elendserzählung zu entkommen: mit Chaos, Wildheit, Surrealismus, narrativem Überschuss – und einem Beharren auf der Simultaneität von Krise und Fantastik. Auch wenn es in jedem der drei Filmteile einleitend heißt, dass es sich nicht um eine Adaption von „1001 Nacht“ handle, so könnte es doch keine geeignetere Struktur für Gomes’ multiperspektivisches Erzählen geben wie die ebenjenes Buches mit seinen Wechseln zwischen Anekdoten, Tragödien, Komödien und Burlesken. Eine Gemeinschaft der Jungfrauen versorgt im Film Scheherazade mit immer neuen Geschichten. Auch Gomes hat seine Geschichtensammler und Geschichtenlieferanten. Von August 2013 bis Juli 2014 reiste er mit seinem Team quer durch Portugal, ließ Ereignisse aufspüren und gab Recherchen in Auftrag. Alle Geschichten, Figuren und Orte, von denen Scheherazade erzählt, basieren auf wahren Begebenheiten. Manche davon werden nur angerissen, brechen ab und werden liegengelassen, andere stellt der Film in einen Erzählraum, in dem sie sich detailreich entfalten können. Es gibt traurige, düstere und tragische Geschichten und solche, die komisch und absurd sind, etwa die Geschichte der EU-Beamten mit Erektionsproblemen. Erzählweisen, Genres, Stimmungen und Tonalitäten wechseln, ebenso Orte und Zeiten. Methodisch orientiert sich der Film an der Collage als eines gleichermaßen trennenden wie verbindenden Prinzips. So sind die Übergänge zwischen den verschiedenen Erzählungen, Figuren und Stimmen ebenso nahtlos wie die zwischen den Genres. Gomes fiktionalisiert das Dokumentarische und treibt es mitunter in einen wahren Fabulierrausch; zugleich aber treten Protagonisten der dokumentarischen Passagen als Figuren in den fiktional aufbereiteten Episoden auf. „Oh glückseliger König, ich vernahm, dass sich in einem traurigen Land unter vielen Ländern, wo man von Walen und Meerjungfrauen träumt, die Arbeitslosigkeit rasch ausbreitet“, heißt es im 1. Teil „Der Ruhelose“. Die blumige Sprache wirkt wie ein Widerspruch gegen die Unausweichlichkeit der Verhältnisse, die etwa in den Erzählungen der „drei Prächtigen“ auf tragische Weise spürbar wird. Nach der Erektionsposse, einer von Kindern gespielten Dreiecksgeschichte über einen Mann, der aus Eifersucht zum Brandstifter wurde und einer Episode über einen sprechenden Hahn mündet der Film in einer klassischen dokumentarischen Form. Die „Prächtigen“ erzählen vom Verlust der Arbeit, ihrer identitätsstiftenden Bedeutung, von Depression und Krankheit – „der Arbeitslose ist traurig“, heißt es einmal knapp. Der 2. Teil, der mit „Der Verzweifelte“ betitelt ist, bewegt sich im Spannungsfeld von Groteske und Milieustudie. Eine theatral inszenierte Gerichtsverhandlung in einem Amphitheater endet mit einem Verzweiflungsanfall der Richterin. Die „groteske Verkettung von Dummheit, Gemeinheit und Verzweiflung“, die in den zahlreichen Verhören immer mehr Gestalt annimmt, veranlasst sie zu einem aggressiv-erschöpften Ausruf: „Verpisst euch.“ Die Episode „Die Besitzer von Dixie“ bewegt sich dagegen ganz auf dem Boden der Wirklichkeit. Erzählt wird von verschiedenen Bewohnern eines Hochhauses, deren Leben über einen schönen, weißen und fröhlichen Hund namens Dixie miteinander verbunden sind. Die von einem Doppelselbstmord überschattete Geschichte nimmt immer wieder Anläufe, ihren Erzählraum auszudehnen. Denn da gibt es ja noch den Papagei von 10A, der zu viele Erdnüsse aß und nur dank einer kostspieligen Behandlung, für die eigens ein Kredit aufgenommen werden musste, wieder gesund wurde, fortan aber nicht mehr sprach. Dann die Kinder von 10A und das kleine Loch zu 10B und der Wandschrank in 13C. Nicht zuletzt gibt Gomes mit diesen kurzzeitig geöffneten Türen in neue Geschichten zu verstehen, dass sich ein Bild der Krise nicht über eine exemplarische Geschichte herstellen lässt, sondern allein über Vervielfältigung – und eine gewisse Form der Abstraktion. Auch versucht Gomes mit seinen wuchernden Beobachtungen des Bizarren eine gerade im Sozialdrama vorherrschende Tonalität der Viktimisierung zu umschiffen. So düster die Grundierung vieler Geschichten auch ist: Die Figuren sind immer mehr als die einzelnen Teile ihres sozialen Elends. Im 3. Teil, „Der Entzückte“, widmet sich Gomes ausgiebig dem hochspezialisierten Milieu der Vogelfänger, die unter anderem mit Hilfe von mp3-Playern Finken trainieren, um sie bei Wettbewerben gegeneinander antreten zu lassen. Allerdings braucht der Film einige Anläufe, um dorthin zu gelangen. „Der Entzückte“ beginnt literarisch, es gibt eine Vielzahl an Texteinblendungen und Figuren; so treten beispielsweise ein Dieb namens Elvis auf, Windgeister und ein zeugungstoller blonder Schönling namens Paddler. Wie schon bei den Jungfrauen und der nachbarschaftlichen Gemeinschaft im Hochhausblock steht auch in der Geschichte „Der berauschende Gesang der Buchfinken“ ein funktionierendes Gemeinwesen im Zentrum. Die meisten Vogelfänger kommen aus einem ehemaligen Elendsviertel in der Nähe des Flughafens, das einem Sozialbau gewichen ist. Chico Chapas, den Meister des Fachs, kennt man bereits aus dem 2. Teil, er spielte darin den flüchtigen Mörder Simão Sem Tripas. Einer seiner Schüler versucht am Computer, ausgestorbene Melodien zu rekonstruieren, ein anderer Protagonist ist in der Heavy-Metal-Szene aktiv und hat zahlreiche Musiker ins Metier eingeführt. Auch Vasco, einer der Protagonisten aus der „Dixie“-Geschichte, entpuppt sich als Teil der Vogelfänger-Community. Die Gewissenhaftigkeit und Geduld, mit der Gomes die Männer bei den Vorbereitungen für ihre Wettkämpfe zeigt, perspektiviert ihre Biografien neu. Sie sind keine traurigen Arbeitslosen in einem grauen Sozialbau, sondern Figuren, die ein lebendiges Interesse für ihr Hobby hegen und mit viel Einsatz daran arbeiten, ihr Projekt voranzubringen. Der variationsreiche Gesang der Buchfinken mit seiner Dreiteilung aus Pfeifen, Trillern und Schlussakkord lässt sich dabei auch als eine Art Echo des erzählerischen Prinzips des Films sehen: „1001 Nacht. Teil 1-3“ ist ein Werk der unbedingten Vielstimmigkeit, das auf die Zwänge der Wirklichkeit mit erzählerischer Freiheit antwortet.
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