Wie kann man sich seiner Vergangenheit stellen, wenn man sie komplett vergessen hat? Dieser Widerspruch prägt Atom Egoyans „Remember“. Mit seiner Chuzpe, heikle Themen zum Gegenstand eines unterhaltsamen Thrillers zu machen, hat der kanadisch-armenische Regisseur schon harsche Kritik einstecken müssen. Inwieweit Egoyan hier sozusagen ein zweifaches Sakrileg begeht, muss jeder mit sich selbst ausmachen. Allein der Umstand eines dementen alten Mannes als Protagonisten dürfte für viele schon eine Zumutung sein. Zumal der Film, anders als etwa „An ihrer Seite“
(fd 38 472), „Still Alice“
(fd 42 945) oder „Honig im Kopf“
(fd 42 871), in denen die Krankheit und ihre Folgen ernsthaft behandelt werden, den mentalen Zerfall zu rein dramaturgischen Zwecken nutzt.
Primär aber ist es das Auschwitz-Sujet, das „Remember“ zum Stein des Anstoßes macht. Damit berührt Egoyan eine Grundsatzfrage, die 1993 einen Bilderstreit um „Schindlers Liste“
(fd 30 663) entfachte: Darf der Holocaust „hollywoodisiert“ (Claude Lanzmann) werden? Ist Rühr-, Spannungs- oder gar Horrorkino legitim, wenn dessen Motive gleichsam direkt aus der Vernichtungsmaschinerie der Nazis stammen?
Zev lebt in einem Altenheim und muss jeden Morgen daran erinnert werden, dass seine Frau kürzlich verstorben ist. Trotz der erheblichen Erinnerungslücken, die seine Demenz mit sich bringt, macht er sich eines Tages auf eine gefährliche Reise. Der Film erzählt von dieser Odyssee durch Nordamerika, die zugleich eine Passage in die schmerzhafte Vergangenheit des Protagonisten ist: in die Ermordung der europäischen Juden bis 1945.
Das Handicap des Helden erinnert dabei ein wenig an „Memento“
(fd 35 173). Wie Nolans von Amnesie geplagter Held ist die Erinnerung des greisen Zev Guttman bei Egoyan nach jedem Aufwachen wie ausgelöscht. Doch während Nolan streckenweise rückwärts erzählte, läuft „Remember“ chronologisch ab. Der Zuschauer wähnt sich weitgehend informiert, während der greise Zev immer wieder über seine Umgebung und seine Identität rätselt – und sich seines Auftrags stets aufs Neue vergewissern muss. Denn er reist zwar in eigener Sache, aber nicht wirklich auf eigene Faust.
Zev wird von Max losgeschickt, seinem Freund und Genossen im Seniorenheim, mit dem Ziel, einen Mörder aufzuspüren und zu erschießen. „Du bist der Einzige, der den Mann erkennen kann“, sagt Max. Er spricht von jenem SS-Mann, der als ehemaliger Blockwart in Auschwitz für die Ermordung ihrer beider Familien verantwortlich ist. Der an Rollstuhl und Atemgerät gefesselte Max ist nicht mehr in der Lage, eine derartige Reise anzutreten und den Täter zu erschießen.
Allerdings ist Max klar im Kopf, Zev hingegen verwirrt; der eine ist der Richter, der andere soll der Henker sein. Mittels detaillierter schriftlicher Anweisungen weist Max seinem Heimgenossen den Weg zu vier möglichen Kandidaten, die alle unter dem Namen Rudy Kurlander registriert sind. Hinter einem dieser Männer muss sich der SS-Scherge Otto Wallisch verbergen. Unter falschem Namen soll er irgendwo in den USA oder Kanada leben.
Der Film ist vorzüglich besetzt; zwei Rudy Kurlanders werden als Kurzauftritte von deutschsprachigen Stars gespielt: von Bruno Ganz und Jürgen Prochnow. Neben Martin Landau als Strippenzieher Max trägt vor allem Christopher Plummer den Film – als mit bewundernswerter Zähigkeit sich immer wieder aufraffender Zev auf einer Irrfahrt, die an die unwahrscheinlichen Konstruktionen des späten Hitchcock denken lässt. Brenzlige Situationen säumen Zevs Weg. Er kauft sich eine Waffe. Genügt die mitgelieferte Gebrauchsanweisung für einen gezielten Kopfschuss? Er wird von einem Auto angefahren. Wie soll Zev aus dem Krankenhaus entkommen?
Immer wieder sind es Kinder, die dem dementen Helden aus der Klemme helfen, als hätte Steven Spielberg am Drehbuch mitgeschrieben. Und dann die Hitchcock-Referenzen: Der „Master of Suspense“ hatte die Querfeldeinjagd in „Der unsichtbare Dritte“ (fd 8754) perfektioniert; ein Modell, dem Egoyan über weite Strecken folgt (wobei sich erst das Anwesen des „unsichtbaren Vierten“ als Endstation erweist). An Hitchcocks Regel, das Publikum zwar immer wieder zu überraschen, aber nicht über Gebühr an der Nase herumzuführen, hält sich Egoyan indes nicht.
Der finale Twist hat Kritiker bei der Premiere in Venedig entrüstet. Verständlich. Andererseits ist ein Zug zum Reißerischen schon früh zu spüren, so dass ein subtiles Drama um Erinnerung, Schuld und Sühne von Filmminute zu Minute unwahrscheinlicher wird. Wer angesichts des rustikalen Umgangs mit dem Holocaust-Sujet entsetzt ist, müsste einen Film wie „Inglourious Basterds“
(fd 39 417) in Bausch und Bogen ablehnen. „Remember“ ist kein Meisterwerk, aber es gibt starke Momente wie die „tarantinoeske“, aus aberwitzigen Zufällen konzipierte Szene, in der Zev einen Neo-Nazi in einer abgelegenen Hütte in Texas erschießt. Das Gespenst des Antisemitismus entpuppt sich unvermittelt als reale Bedrohung, hier und heute in Amerika. Was nützt es also angesichts einer unvollkommenen oder zu spät greifenden Gerichtsbarkeit, die alten Verbrecher zu richten, wenn immerfort neue nachwachsen? So gesehen, führt sich der Rachethriller schließlich selbst ad absurdum. Übrig bleibt der Eindruck einer formal geschickten und virtuos ins Bild gesetzten Spielerei mit Motiven des Spannungskinos, die sicherlich keine hochreflektierte Betrachtung über Sinn und Unsinn der Selbstjustiz darstellt.
Wirklich bedauerlich ist indes der Umstand, dass es Egoyan erneut nicht schafft, an seine künstlerischen Hochzeiten anzuknüpfen. Nichts gegen das fesselnde Skript von Benjamin August, doch vielleicht sollte Egoyan wieder daran gehen, seine eigenen Drehbücher zu verfassen. So wie er es bei „Ararat“
(fd 36 332) getan hat, einem Film mit mehr Mut und Intelligenz, vor einem vergleichbaren Hintergrund, dem Völkermord an den Armeniern. Egoyans große Filme aus den 1990er-Jahren wie „Exotica“
(fd 31 113) oder „Das süße Jenseits“
(fd 33 033) möchte man gar nicht erst erwähnen. Hat der Filmemacher seinen Ehrgeiz verloren? Oder hat er seine besten Jahre schlicht hinter sich?