Kirschblüten und rote Bohnen
Drama | Japan/Frankreich/Deutschland 2015 | 109 Minuten
Regie: Naomi Kawase
1 Kommentar
Der Pächter eines kleinen Imbisses, in dem ausschließlich Pfannkuchen mit Bohnenpaste angeboten werden, stellt, zunächst widerwillig, eine alte Frau als Aushilfe ein. Ihre liebevoll und zeitaufwändig zubereitete Bohnenpaste erweist sich bald als köstliche Delikatesse, doch birgt sie ein Geheimnis, das den Erfolg zu gefährden droht. Ein anrührend-ergreifendes Drama, das der Zubereitung des Essens eine mythische Bedeutung verleiht, in der Wissen, Erfahrung und die Kunst, den Dingen ihre Zeit zu lassen, zusammenfinden. Mit der dramatischen Forcierung auf das Schicksal der alten Frau plädiert der Film für mehr Respekt und Rücksicht in der japanischen Gesellschaft.
- Sehenswert ab 14.
Filmdaten
- Originaltitel
- AN
- Produktionsland
- Japan/Frankreich/Deutschland
- Produktionsjahr
- 2015
- Produktionsfirma
- Comme des Cinémas/NBN/Twenty Twenty Vision/AEON Ent./Kumie/Poplar Publ./Hakuhodo/Elephant House/The Asahi Shimbun Co./ZDF/arte/Mam
- Regie
- Naomi Kawase
- Buch
- Naomi Kawase
- Kamera
- Shigeki Akiyama
- Musik
- David Hadjadj
- Schnitt
- Tina Baz
- Darsteller
- Kirin Kiki (Tokue) · Masatoshi Nagase (Sentaro) · Kyara Uchida (Wakana) · Miyoko Asada (Ladenbesitzer) · Etsuko Ichihara (Yoshiko)
- Länge
- 109 Minuten
- Kinostart
- 31.12.2015
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Drama | Literaturverfilmung
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
"Man ist, was man isst" als meditative Fabel von Naomi Kawase
Diskussion
Sentaro ist ein mürrischer Mann. Die aufgekratzt-plappernden Schülerinnen, die seine kleine Imbissbude in einem Tokioter Stadtteil aufsuchen, gehen ihm auf die Nerven, obwohl er sie, das zeigt ein verstecktes Lächeln, eigentlich mag. Sentaro verkauft Dorayaki. Das sind kleine Pfannkuchenhälften, die mit roter Bohnenpaste bestrichen und dann wie ein Schokoladenkeks zugeklappt werden. Die Pfannkuchen backt Sentaro selbst, doch die Paste bezieht er in Plastikeimern vom Großmarkt. Vielleicht ist das der Grund, warum er selbst die Dorayaki nicht gerne isst. Mit einem kleinen Aushang sucht er eine Aushilfe für seinen Imbiss. Prompt meldet sich eine alte Frau namens Tokue, die den körperlichen Strapazen des Jobs aber auf den ersten Blick kaum gewachsen ist. Sentaro weist sie ab, mehrmals – bis sie ihn von ihrer selbstgemachten Bohnenpaste kosten lässt. Sentaro ist verblüfft: was für ein Duft, was für ein Geschmack. Kurzentschlossen stellt er die alte Dame ein.
Die japanische Regisseurin Naomi Kawase nimmt sich viel Zeit, den liebevollen, zeitraubenden Prozess der Zubereitung der Paste ausführlich vor Augen zu führen, der lange vor Sonnenaufgang beginnt: das Einlegen der Bohnen in Wasser, die Zugabe von Zucker und Gewürzen, das Rühren und Warten, Rühren und Warten, Rühren und Warten – bis die richtige Konsistenz erreicht ist. Der Lohn der Mühe: Tokues Bohnenpaste ist in der Nachbarschaft der Hit – plötzlich stehen die Kunden Schlange. Doch die alte Frau birgt ein Geheimnis, das den Erfolg zu gefährden droht.
Erst vor wenigen Monaten hatte Kawase in „Still the Water“ (fd 43 222) die Natur mit einer tiefempfundenen Religiosität beschrieben und die Schöpfung gefeiert; es ging um das Meer, die Liebe und den Tod. „Kirschblüten und rote Bohnen“ zeugt von einer ähnlichen philosophischen Tiefgründigkeit, diesmal allerdings mit Blick auf das Essen beziehungsweise das Kochen. Dem Rhythmus der Zubereitung, dem Wechsel aus Warten und Rühren kommt eine fast schon mythische Bedeutung zu, in dem die Zeit die wichtigste Rolle spielt.
Zeit zu haben, den Dingen ihre Zeit zu lassen, nicht nur beim Kochen, sondern auch bei anderen Tätigkeiten: Das ist die wichtigste Erkenntnis, die Kawase dem Zuschauer mit auf den Weg gibt. Dabei steht die Regisseurin durchaus in der Tradition anderer Filme, die seit „Babettes Fest“ (fd 27 217) oder „Eat Drink Man Woman“ (fd 30 959) das Zelebrieren des Kochens mit all seinen Etappen, von der Vorbereitung der Zutaten bis zum Servieren feiern und gleichzeitig das gemeinschaftliche Mahl als Zeichen von Geselligkeit, Kommunikation und Zugehörigkeit umschreiben. Dorayaki, das ist ein Snack – ähnlich schnell verzehrt wie die in Japan verehrte Kirschblüte vorüber ist, deren Pracht jedes Jahr im April das ganze Land schlagartig zu verändern scheint. Ein Tatsache, der Kawase eine besondere Bedeutung verleiht: auch hier sind wie schon in „Still the Water“ Vergänglichkeit und Tod die bestimmenden Themen.
Zu den schönsten Ideen des Films zählt, dass sich das von den Schauspielern Masatoshi Nagase und Kirin Kiki behutsam nachempfunden und vielschichtig dargestellte Verhältnis zwischen Sentaro und Tokue allmählich verändert, wenn nicht sogar umkehrt. Aus dem skeptischen Chef wird ein wissbegieriger Lehrling, der die kenntnisreiche, in vielen Jahren erworbene Erfahrung der alten Frau respektiert und bewundert: Perfektion, und sei es nur bei so etwas Banalem wie Bohnenpaste, fällt einem nicht einfach so zu. Damit nicht genug: Eine der Schülerinnen, die stille und sensible Wakana, steht stellvertretend für die junge Generation. Von ihrer Mutter vernachlässigt, findet sie in der Freundschaft zu Sentaro Halt und überbrückt so mögliche Generationskonflikte.
Mit der Etablierung des Konflikts um Tokues Schicksal mündet der Film überdies ins Fahrwasser eines gewichtigen Dramas. Das hat ihm bei der Premiere in Cannes den Vorwurf eingetragen, „kitschig“ und „sentimental“ zu sein, „betulich“ und mit „zu viel Leerlauf“ inszeniert. Ein Missverständnis. Denn mit der dramatischen Forcierung plädiert Kawase für mehr Respekt und Rücksicht in der japanischen Gesellschaft. Eine Toleranz, die Sentaro, Tokue und die Schülerinnen generationsübergreifend bereits leben. Essen verbindet – egal ob in einem schicken Restaurant oder in einer kleinen Imbissbude.