Auf die Frage, wer der bedeutendste Filmregisseur des 20. Jahrhunderts sei, antwortete Charlie Chaplin 1958: „Der beste, talentierteste und größte Filmregisseur, der Philosoph des Films, der Regisseur einer großen humanistischen Wahrheit ist mein Freund Sergej Michailowitsch Eisenstein.“ Damals war Eisenstein zehn Jahre tot; seinen „Panzerkreuzer Potemkin“ (
(fd 20 707), 1925) musste jeder kennen, der über Kunst und Politik mitreden wollte, und niemand bestritt Chaplins enthusiastisches Bekenntnis. Später, vor allem nach dem Ende des realsozialistischen Experiments, fielen die Urteile herber aus. Hatte Eisenstein mit seinen Filmen nicht dazu beigetragen, dem stalinistischen System eine internationale Reputation zu verschaffen? War er wirklich ein Genius oder doch auch ein Konformist? War es nicht an der Zeit, die „Ikone der Linken“ zum intellektuellen Verfechter eines historischen Irrtums, ja zum Mitschuldigen an einem menschheitsgeschichtlichen Verbrechen zu erklären? Oder triumphierte in Eisensteins Werk eben doch die Kunst über die Despotie? Machte ihn das, was ihm unter Stalin versagt wurde, nicht eher zum Opfer als zum intellektuellen Mittäter?
Solche Fragen beschäftigen Peter Greenaway in „Eisenstein in Guanajuato“ nicht. Er verfährt mit dem russischen Starregisseur so ähnlich, wie es Peter Shaffer und Milos Forman in „Amadeus“
(fd 24 828) mit Mozart vorexerzierten: Zu sehen ist ein spätpubertäres, ungebärdiges, naives Kind, ein Clown mit verstrubbeltem Haar und weit aufgerissenen Augen, der sich pausenlos schwadronierend um die eigene Achse und vor allem um den eigenen Penis dreht. Denn was Greenaway am meisten interessiert, ist nicht Eisensteins Kunst, auch nicht dessen politische Verstrickung, sondern seine Sexualität, das Coming out mit einem mexikanischen Liebhaber, der zunächst Fremdenführer, dann auch heiß begehrter Bettgenosse wird. Ins Zentrum des Films stellt Greenaway eine ausführliche Entjungferungsszene, die darin gipfelt, Eisenstein mit rotem Fähnchen im Hintern posieren zu lassen. Das soll komisch sein, aber es wirkt auch ein bisschen klein und nichtig, so wie der ganze Film, nach der erzwungenen Trennung Eisensteins von seinem Geliebten, eher die Niederungen eines tränensatten Melodrams streift als zeitgeschichtliche oder gar kunstphilosophische Höhen erklimmt. Mag sein, dass Eisenstein als Denkmal ja wirklich ausgedient hat. Aber ihn, wie der finnische Darsteller Elmer Bäck es vormacht, zum Hampelmann in einer grellbunten Farce zu degradieren, wird ihm auch nicht gerecht.
Dabei ist „Eisenstein in Guanajuato“ durchaus kein misslungener Film. Der 73-jährige Greenaway, der sich nach seinen großen Erfolgen der 1980er- und frühen 1990er-Jahre, nach „Der Kontrakt des Zeichners“
(fd 24 471) oder „Die Bettlektüre“
(fd 32 196), scheinbar schon vom Kino verabschiedet hatte, feiert durchaus kraft- und lustvoll seine Rückkehr auf die Leinwand. Sein verspielter, rauschhafter Umgang mit Formen und Farben, mit Montagen und Collagen beginnt bereits mit der schwarz-weißen Eröffnungsszene, in der Eisenstein die vor Hitze flimmernde mexikanische Landschaft nebst Stechpalmen und Agaven für sich zu erobern versucht – was wie ein Zitat aus dem Filmprojekt „Que viva Mexico“ anmutet, für das er 1931, gemeinsam mit seinem Kameramann Edouard Tissé und dem Assistenten Grigori Alexandrow in das lateinamerikanische Land gekommen war. Später leuchten Häuser und Kirchen postkartenbunt; Greenaway zieht alle Register der digitalen Trickkiste, voller Farbverstärkungen und -verfremdungen, auch in der teils digitalen Erschaffung der Interieurs mit düsteren Friedhofsgängen, schlossähnlichen Hotelzimmern, Restaurants oder Säulenhallen. Da bewegt sich die Kamera minutenlang im Kreis, die Leinwand teilt sich ins Drei- und Vielfache; Szenen aus „Panzerkreuzer Potemkin“ oder „Oktober“ (1927) werden zu den inszenierten Bildern hinzu montiert, Eisensteins Bekanntschaften Douglas Fairbanks, Marlene Dietrich, Josef von Sternberg, Albert Einstein imaginiert; Diego Rivera und Frida Kahlo sind gleichfalls zugegen: ein Motiv-Puzzle, das Spaß macht und doch zugleich ins Leere zu laufen droht, weil es im Grunde oft nur Formenspiel bleibt.
Der Film verweist zwar auf die Bedrohung durch sowjetische Agenten, die Eisenstein bespitzeln und beschatten, doch die sind zu Kasperle-Figuren verkleinert: Dass Stalin rund zehn Jahre später, ebenfalls in Mexiko, seinen Widersacher Leo Trotzki mit Hilfe eines Eispickels ermorden ließ, scheint von Greenaway nur sehr am Rande mitgedacht worden zu sein. Vielleicht war ihm das politische Dilemma in Eisensteins Leben, das Duell zwischen Genie und Ideologie ja wirklich egal. Vielleicht interessierte ihn, vermittelt über die spekulative „Coming out“-Saga, vielmehr eine andere existentielle Parabel: die über das Verhältnis von Sex und Tod, das unumschränkte Bekenntnis zur Lust als Möglichkeit, die eigenen Ketten, ganz gleich, welcher Art, abzustreifen. Der historischen Figur Eisensteins hätte es dazu nicht unbedingt bedurft. Mag sein, dass die Anmutung von Oberflächenreizen, die „Eisenstein in Guanajuato“ so zwiespältig macht, dann ausgeblieben wäre.